Vergessen ist schlimmer als Sterben - Erinnerungskultur eines Dorfes
Das Buch begleitet Josef Märte aus Sipplingen auf seinem Lebensweg
bis zu seinem frühen Tod. Einen jungen Menschen, der aus der bäuerlichen Enge eines Dorfes in die vermeintliche Freiheit des Dienstes in der Luftwaffe geriet.
Das Buch berichtet über die Zeit, in der die Angehörigen der Gefallenen und Kriegsopfer lange Jahre der Trauer durchlebten. Ab der Zeit des heftigen persönlichen Trauerschmerzes beim Tod eines geliebten Angehörigen bis hin zur kollektiven Trauer, die in den heutigen Gedenk-und Erinnerungsfeiern ihren Ausdruck findet.
Das Buch zeigt Bilder der Gefallenen und ihre Todesanzeigen.
Es vertieft und visualisiert den Zugang zu den Ereignissen der damaligen
Zeit.
Das Buch erläutert die Sipplinger Erinnerungskultur.
Ein ökumenisch geprägtes Erinnern an die Opfer von Krieg und Gewalt.
Die Kirchengemeinden Ludwigshafen und Sipplingen, sowie die politische Gemeinde Sipplingen haben, seit ihrem Beginn im Jahr 2006, aktiv diese neue Erinnerungskultur möglich gemacht. Pfarrer, Frauen und Männer der beiden Gemeinden haben den ökumenischen Gottesdienst zelebriert und in die Zukunft geführt.
Inhalt
1. Gedanken zu Krieg und Frieden
Teil 1 Wer war Josef Märte
2. Sipplingen im Nationalsozialismus
3. Die Familie Rosa und Max Märte in Sipplingen
4. Josef Märte: Bauernsohn, Freigeist, Flieger
5. Endlich frei: Reichsarbeitsdienst
6. Traumziel: Flugzeuge
7. Fast am Ziel: Flieger-Ausbildungs- Regiment 23
8. Richtung Berlin: Luftwaffen- Grundausbildung
9. Euphorie und Krankheit: Flugzeugmechaniker
10. Ostfeldzug: Das Unternehmen Barbarossa
11. Josefs Weg: Einsatzorte und Einsatzzeiten
12. Neue Aufgaben: Außenbergungen, gefährliche Einsätze
13. In seinen Worten: Das Tagebuch von Josef Märte
14. Das Erlebte rekonstruieren: Josefs Tätigkeiten und Handeln
15. Im Osten: Morosowskaja, Shuttle Bombing auf Stalingrad
16. Im Osten: Novoukrainka, Malyn-Wyska, Perwomajsk
17. Fort von den Kämpfen: Von Perwomajsk über Eschwege nach Krakau
18. Ein letzter Eintrag: Unfall bei Krakau
19. Schicksal ungeklärt: Das Ende von Josefs Leben
20. Josefs Weg: dem Unbekannten entgegen
Teil 2 Persönliche Erinnerungskultur
21. Erinnern, denn Vergessen ist schlimmer als Sterben
Teil 3 Kollektive Erinnerungskultur
22. Kollektive Erinnerung, der Weg in die Zukunft
23. Sipplingen erinnert sich
24. Erinnern und Gedenken, Volkstrauertag 2009
25. Die Toten und Vermissten der beiden Weltkriege aus Sipplingen
26. Das Leid der Menschen aller Nationen
Teil 4 Bilder, stumme Zeugen von Leid und Gewalt
27. Junge Gesichter schauen uns an
Teil 5 Permanente Trauer: Die Sammlung von Karolina Widenhorn
28. Dokumente der Realität
Teil 6 Erinnerungskultur über Sipplingen hinaus: Das Ende des Zweiten Weltkriegs
29. Erinnerung an Täter, Gewalttaten und Morde am Bodensee
30. Kriegsende und Endphase-Verbrechen in Wahlwies
31. Kriegsende und Endphase-Verbrechen in Ludwigshafen
32. Kriegsende und Endphase-Verbrechen in Hödingen
33. Kriegsende und Endphase-Verbrechen in Sipplingen
34. Die Blutspur der SS-Truppen bis Vorarlberg
35. Die Opfer der letzten Tage
Nachwort
Leseprobe
Sipplingen im Nationalsozialismus
In den 1930er und 1940er-Jahren führten die Menschen in den kleineren Orten am deutschen Bodenseeufer meist ein Leben unter kleinlandwirtschaftlich geprägten, ärmlichen und spartanischen Verhältnissen. Tourismus, als Erwerbsquelle, kannte man nur in ganz bescheidenem Umfang. Ihre Wohnorte erschienen fast unbedeutend und blieben so mehrheitlich von materiellen Kriegsfolgen verschont. Der Krieg und Nationalsozialismus wurden von den meisten Bewohnern geduldig hingenommen, häufig aber auch bejahend ausgelebt. Doch das Leben ging weiter seinen Lauf und abends, nach getaner Arbeit, trafen sich die Familien wie eh und je vor ihren Häusern.
Die Frauen kamen von der Arbeit auf dem Feld, das oft so klein war, dass es eine Familie kaum ernähren konnte.
Männer, die nicht im Krieg waren, auch Frauen und Kinder, mussten durch eine bezahlte Arbeit neben der eigenen Landwirtschaft den Lebensunterhalt der Familie aufbessern. Nach außen hatte alles den Anschein, als würde das Leben in diesen kleinen Orten auch im Krieg seinen normalen Gang gehen. Doch der Schein trog, denn da war die allgegenwärtige Sorge um das Leben der jungen Menschen, die zum Kriegsdienst eingezogen worden waren. Fast ganze Jahrgänge junger Menschen kamen nie mehr in ihre Heimatorte zurück. Die Toten hinterließen ihre Familien in lähmender Trauer.
In den Kriegsjahren von 1939 bis 1945 musste der Ortspfarrer viele Trauermessen für die im Krieg Gefallenen und Vermissten halten. Damals lebten in Sipplingen gerade einmal 900 Menschen, 90 von ihnen, also rund zehn Prozent, starben im Zweiten Weltkrieg.
Nur wenige von ihnen wurden auf dem Friedhof in Sipplingen beigesetzt. Insgesamt dürfte die Zahl der in ihrer Heimatgemeinde bestatteten Gefallenen nicht mehr als zehn betragen haben. Ein Kriegstoter wurde später auf den niederländischen Ehrenfriedhof in Frankfurt-Niederrad umgebettet. Heute ist nur noch ein Soldatengrab in Sipplingen erhalten. Es hat ein ewiges Ruherecht.
Über die tatsächlichen Kriegsereignisse, ihre Brutalität und Folgen wurde in den ländlichen Gemeinden damals so gut wie nichts bekannt. Nicht in jedem Haus gab es eine Zeitung oder ein Radio, um zumindest die tendenziösen täglichen Meldungen des „Wehrmachtsberichts“, zu lesen oder zu hören. Die nationalsozialistische Durchdringung aller Bereiche des Lebens sowie der öffentlichen Einrichtungen einer Gemeinde wurde von den Bewohnern weitestgehend akzeptiert und aktiv unterstützt. Meist glauben die Menschen in diesen Orten in ihrer Mehrheit lange an den „Endsieg“, die Partei und ihren Führer, der in einer Rede einmal sagte: „Ich bin euer Gott“. Die wenigen, die nicht an diesen „Gott“ glaubten, wurden schikaniert, bedroht und zum Teil auch bestraft. Offene Gespräche fanden aus Sorge, man könne denunziert werden, so gut wie nicht statt. Und dennoch fühlte sich das, was die Bewohner zu dieser Zeit erlebten und erfuhren, in ihrem Verständnis wie Frieden an. Doch draußen im Deutschen Reich, in Europa und in der Welt ging der Krieg mit aller Härte und Unmenschlichkeit weiter. In Wirklichkeit erlebten die Menschen in Deutschland, seit dem Kriegsbeginn 1939, die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Diese sollte erst am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches enden.In Sipplingen ist es seit 2006 Tradition, dass die Menschen am Volkstrauertag in einem Gottesdienst der Toten von Krieg und Gewalt gedenken. Zugleich zeigt eine Ausstellung in der Sankt Martinskirche Fotos der Getöteten. Die meisten Bilder wurden von den Familien der Getöteten zur Verfügung gestellt. Sie bringen den Betrachtern die Menschen nahe und erinnern, dass die Toten beider Weltkriege auch heute noch Teil der Dorfgemeinschaft sind.
Mit sechs Jahren kam Josef in die Volksschule in Sipplingen. Mit 14 Jahren beendete er seine Schulzeit und begann 1934 eine Lehre in der Schlosserei Wenk in Überlingen. Noch während, oder kurz vor Beginn, der Lehrzeit trat Josef der Hitlerjugend bei, damals der Traum der meisten 14-jährigen Jungen. Es ist nicht auszuschließen, dass er schon zuvor zum Jungvolk, einer Vorstufe zur Hitlerjugend, gehörte. 1937 endete die Lehrzeit. In einer Lossprechungsfeier der Bezirksgewerbeschule Überlingen, die er drei Jahre besucht hatte, wurde der junge Schlossergeselle ins Arbeitsleben entlassen. Vermutlich arbeitete er noch ein Jahr bei seinem Lehrherrn Wenk bis er von 1938 bis 1939 bei den Flugzeugwerken Dornier in Friedrichshafen beschäftigt war. 1939 wurde Josef zum Reichsarbeitsdienst eingezogen.
Josefs Eltern merkten früh, dass er sich nicht wie seine
Geschwister für die landwirtschaftlichen oder häuslichen Arbeiten interessierte. Er war ein Freigeist, der sich für Bücher, Gedichte und besonders für die Fliegerei interessierte. So kam ihm die nationalsozialistische Lebensart, die ihm Freiheit vom Elternhaus und Selbstbestimmung versprach, sehr entgegen. Er nutzte alle Möglichkeiten an Veranstaltungen der KdF-Organisation teilzunehmen, dabei lernte er neue Menschen kennen, woran ihm viel gelegen war. Er war sicherlich ein sehr offener und neugieriger junger Mann. Wenn sich die Gelegenheit bot, Kontakte mit Gleichdenkenden zu knüpfen, ergriff er sie. Für all diese Interessen empfand er sein Dorfleben in Sipplingen als zu eng und in gewissem Grad auch als zu konservativ.
Josef Märte war kein Draufgänger. Er war eher ein sanfter, sensibler und intelligenter Mensch, ein „Verführter“, der im Umfeld des Nationalsozialismus die große Freiheit und die Selbstbestimmung suchte, die ihm sein bäuerliches Umfeld nicht bieten konnte.
Erinnern, denn Vergessen ist schlimmer als Sterben
Wenn ein geliebter Mensch aus dem
Leben scheidet, werden seine Freunde, Familienangehörigen und Verwandte in tiefe Trauer gestürzt. Dinge, die noch bis eben wichtig erschienen, werden zu unbedeutenden Nebensächlichkeiten. Die Trauer
um den Menschen nimmt die Überlebenden in
vollkommenen Besitz. Aus dieser Trauer heraus wächst ganz unbemerkt die zarte Pflanze der Erinnerung. Eine Erfahrung, die die Menschen lebenslang nicht mehr
verlässt, die sie tröstet und sie mit dem Toten in einer geistigen Verbindung hält. Erinnern ist wie atmen.
Die zarte Pflanze der
Erinnerung an Josef Märte keimte bald nach der Trauerphase, in der seinen Eltern Rosa und Max gewiss wurde, dass
Josef nicht mehr zurückkommen würde. Sie übertrug sich auf seine vier Geschwister. Die Erinnerung an Josef wuchs zu einem starken Baum im Leben seiner
Familie. Besonders seine Schwester Ida hatte lebenslang die Erinnerung an Josef wachgehalten. Sie war es, die zu vielen Anlässen über ihn sprach und die Aufmerksamkeit auf sein Leben lenkte. Sie
erzählte allen Enkeln von Josef und seinem Leben. Sie schaffte es diese Enkel zu faszinieren, sodass das Leben von Josef bei allen zu einem festen Begriff wurde. Wenn die Enkel mehr von Ida über
Josef wissen wollten und deren Fragerei über ihr Wissen hinausging, hat sie einfach mit kindgerechten Erweiterungen die Geschichten vervollständigt. Sie war diejenige, die ihrem Bruder, in den
Jahrzehnten nach seinem Tod, Gestalt und Leben einhauchte. Ihr Leben lang hat sie sich bemüht, dass Josef ein unvergessener Teil der Familie blieb.
Ida starb am 11. November 2018. Ihre Familie verabschiedete sie bei ihrem Requiem mit folgenden Worten:
Da wir nicht mehr miteinander reden können, möchten wir Dir einen Brief schreiben. Man könnte meinen, dass das ein Abschiedsbrief werden müsste. Doch weit gefehlt. Es soll einfach nur ein Brief an Dich werden, so wie man ihn eben einem geliebten Menschen schreiben würde. Ja, ein Dankesbrief soll es schon sein, der Dir versichert, dass wir Dich nicht vergessen werden, auch wenn Du heute in der zeitlosen Weite der Ewigkeit lebst. Eine Ewigkeit, zu der Du nun Zugang hast, von der wir so gut wie nichts wissen. Doch in unserem gemeinsamen Glauben war und ist diese Ewigkeit immer existent.
Wir sind sehr traurig, dass Du nicht mehr mit uns am Tisch sitzt, eine feine Pizza oder einen Salat mit uns isst und uns von Deiner langen Lebenserfahrung erzählst. 96 Lebensjahre sind eine lange Zeit, in der sich viel Schönes, aber auch manches traurige Ereignis verbirgt. Mitgefühl und eine humorvolle Schlagfertigkeit im Gespräch waren in Dir vereinigt. Lebenslang stand bei Dir die Sympathie für Deine Familie, Deine Freunde und Deine Gäste im Vordergrund.
Gern erinnere
ich mich an einen Gast, ein älterer Herr aus England, der so von Dir begeistert war, dass er einmal zu mir sagte: „Wenn die Ida einmal stirbt, braucht ihr nicht für sie zu beten, es ist besser, ihr
betet zu ihr". Recht hat er gehabt! Doch auch harte Zeiten hat Dir das Leben bereitet. Der frühe Tod von Doris, das leidvolle Sterben von Julius haben Dir arg zugesetzt. Nicht zuletzt auch der
Übergang der „Krone“ in neue Hände. Doch Du bliebst, wie Du immer gewesen bist, liebenswert und voll Mitgefühl. Dafür danken wir Dir heute und auch in Zukunft. Mathis, Irina, Silja, Ronald, Bastian,
Martin, Sina und Julian saßen oft und gern in Deiner Stube. Sie erzählten Dir, was sie gemacht, gesehen und erlebt hatten. Du warst auch in ihrem Leben der Mittelpunkt. Wie schön, dass Du Deine
Urenkel Maxim und Silas noch erleben konntest.
Sie waren für Dich regelrechte Muntermacher, gerade als Du schon fühltest, dass Deine Zeit sich dem Ende zuneigte. Als Du dann erfuhrst, dass noch der dritte Urenkel auf dem Weg sei, kannte Deine
Freude fast keine Grenzen. Der dritte Urenkel wird nur Dein Grab sehen, in dem Du nun neben Julius, seinem Vater Ernst und Doris als Alt-Kronewirtin Ruhe in der Sipplinger Erde gefunden hast. Wir
alle werden nun oft an Dich denken und dankbar sein, dass Du mit uns gelebt hast.
Als Ida in Ruhe und Frieden gegangen war, fand ihre Familie an verschiedenen Stellen in ihrem Nachlass
kleine weisse Notizzettel. Auf einem stand: "Vergesst mich nicht." Mancher
möchte die Erinnerung ausblenden,
vergessen, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Tun wir das, wird uns die Erinnerung wieder
einholen. Sie wird uns quälen und bewusst machen, dass es besser gewesen wäre, diesen Schlussstrich nicht zu ziehen.
Kollektive Erinnerung, der Weg in die Zukunft
Zu Beginn ist die Erinnerung an
einen geliebten Menschen sehr persönlich geprägt, sie ist verinnerlicht und sie wird mit nur wenigen Menschen geteilt. Mit größerem Zeitabstand wird der Schmerz, den die Trauer ausgelöst hat,
geringer. Die Erinnerung an einen geliebten Menschen tröstet und tritt in den Vordergrund. Oft wird die persönliche Erinnerung in eine intensive, kollektive und lebenslange Erinnerung eingebunden.
Diese kollektive Erinnerung umfasst im Laufe der Zeit mehr und mehr gelebte Leben. Sie wächst über Grenzen und Ethnien, ja sogar über Religionen hinaus. Sie bildet letztlich ein Universum, dessen
Ende im Unendlichen liegt. Eine Vorschau der Ewigkeit? Die kollektive
Erinnerung verbindet unsere Verstorbenen mit den vielen anderen, sie macht uns frei und ermöglicht, uns in die Gefühlswelt Anderer zu versetzten. Sie löscht die Unterschiede zwischen „Freund“ und
„Feind“. Sie macht Hass und Missgunst zunichte. Doch erweckt und erhalten werden muss diese Erinnerung von den Lebenden, den Ereignissen der Gegenwart und der Tradition. So macht die kollektive
Erinnerung Gedenktage und jedes gemeinsame Gedenken möglich.
Der Volkstrauertag ist in Deutschland ein solcher Tag des kollektiven Gedenkens. Im Jahr 2020 markierte er ein besonders eindrucksvolles und bisher einmaliges Ereignis: Der Tag schrieb Geschichte. Der britische Thronfolger Prinz Charles hielt vor dem Deutschen Bundestag eine Gedenkrede zum Volkstrauertag. Es war das erste Mal, dass sich ein britischer Thronfolger zur friedensstiftenden Versöhnung der Völker, der Erinnerung und dem kollektiven Erinnern an die Ereignisse und die Opfer des Zweiten Weltkriegs in Deutschland äußerte.
Sipplingen erinnert sich
Der Volkstrauertag wird in Sipplingen seit jeher begangen. Die Teilnehmer versammelten sich zu einer Messfeier, in der kollektiv aller Opfer von Krieg und Gewalt gedacht wurde.
Ab 2006 wandelte sich diese Messfeier und es wurde namentlich jedes einzelnen Kriegsopfers des Dorfes gedacht, ohne die vielen Opfer aller Kriege und Gewalt zu vergessen. 2007 wurde aus der katholischen Messfeier ein ökumenischer Wortgottesdienst. Dieser wird heute in der St. Martinskirche von den katholischen und evangelischen Pfarrern aus Sipplingen und Ludwigshafen zusammen mit aktiven Gemeindemitgliedern zelebriert. Dieser interkonfessionelle Gottesdienst bringt Menschen aus verschieden Orten und Glaubensgemeinschaften in einem direkten Erinnern an die Kriegsopfer und deren Familien zusammen. Bilder von vielen der Getöteten stehen auf den Seitenaltären der Kirche und lassen die Erinnerung an die getöteten Menschen wieder aufleben. Bereits zu Beginn der ersten Gedenkfeier im Jahr 2006 wurden die Opfer aus anderen Orten und Ländern, Freunde und ehemalige Gegner in das persönliche Gedenken eingeschlossen, denn Leid, Trauer und Schmerz kennen keine Grenzen.
Im Jahr 2008, dem dritten Jahr des kollektiven Erinnerns und Gedenkens in Sipplingen, fasste eine Pressenotiz den Volkstrauertag zusammen:
Mit einem ökumenischen Gottesdienst in der St. Martinskirche und der traditionellen Gedenkfeier auf dem Friedhof würdigten viele Menschen alle Opfer kriegerischer und politischer Gewalt, unabhängig von ihrer Nationalität. Die kirchliche Gedenkfeier wurde von Pfarrer Dr. Joha, mit der These „Die Würde des Menschen fordert uns zur Erinnerung an die Toten auf“, eröffnet. Pfarrer Roth las Texte aus der Bibel und stellte sie in Bezug zum Gedanken des Volkstrauertages. Zentraler Punkt dieser Feier war eine Gedenkzeremonie, um an die Toten aus Sipplingen zu erinnern und ihnen wieder Namen und Gesicht zu geben. Jolande Schirmeister und Hannes Schuldt lasen die einhundertdreißig Namen der Sipplinger Kriegstoten des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Auf den
Altären standen eine große Zahl Bilder der Gefallenen des Ortes, vereint mit den Bildern von Gefallenen der früheren Gegner. Für sie und alle Opfer politischer und militärischer Gewalt wurden Kerzen am Licht der Auferstehung, der Osterkerze, entzündet.
In einer „Meditation zu Trauer und Frieden“ rief Elmar Wiedeking die Erinnerung an vergangene Zeiten zurück.
Er beschrieb die Angst machende innerpolitische Gewalt, die von den damaligen Machthabern ausging und bis in das Dorf Sipplingen wirkte. Etwa 60.500 Menschen, Bürger aus nahezu allen Städten und Dörfern unseres Landes fielen dieser politischen Gewalt allein durch Euthanasie und der Zwangssterilisation zum Opfer.
Dokumente der Realität
Karolina Widenhorn hatte vor vielen
Jahren schon ein
Gespür, für das, was in Zukunft noch geschehen würde. Sie war sich sicher, dass der Nationalsozialismus ins Unglück führt. Mit ihrer Meinung wird sie nicht überall auf Zustimmung gestoßen sein, denn
viele Menschen hielten damals die nationalsozialistischen Machthaber für geeignet, die
bestehenden sozialen Probleme zu lösen und die Deutschen wieder zur stärksten Militärmacht Europas und der Welt zu machen. Karolina sammelte Traueranzeigen aus der Zeitung und Sterbebilder, die es
bei fast jeder Totenmesse gab. Dadurch schuf sie einen Fundus, der uns heute einen tiefen Einblick in die nationalsozialistische Trauerkultur ermöglicht und einen großen Wert für die Sipplinger
Familien- und Ortsgeschichte darstellt.
Die originalen Todesanzeigen und Sterbebilder, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, geben einen Einblick in die Realität der Leidenszeit der Angehörigen und in ihre permanente Trauer.
Zugleich zeigen sie die Wertlosigkeit des „Heldenmythos“, mit dem sich die trauernden Menschen nach Ansicht der Nationalsozialisten trösten sollten. Die „Heldentod-Sage“, die Bestattung auf einem „Heldenfriedhof“ durch die Kameraden findet sich in vielen der Anzeigen. Nur ganz wenige der Hinterbliebenen werden aus diesen Worten die Kraft geschöpft haben, die sie in einem Trauerfall gebraucht hätten. Den meisten wird bewusst gewesen sein, dass die Realität des Todes eines Soldaten, ihres geliebten Menschen, anders war: leidvoll, grausam und unendlich einsam. Die Trauer blieb immer die innerste Reaktion eines jeden Menschen. Nicht einmal eine Nazidiktatur vermochte sie zu schmälern und sie zum „stolzen Opfer für Führer, Volk und Vaterland“ umzuwandeln.
Die in den Todesanzeigen gedruckten Texte konnten durch die Hinterbliebenen damals nicht frei gewählt werden. Es gab enge „Vorschriften“, die in fast allen gezeigten Anzeigen zu erkennen sind. Es durfte nirgendwo im Text auch nur der Eindruck entstehen, dass der Verstorbenen für eine ungerechte Sache aus dem Leben gerissen worden war.
Im Folgenden werden alle Anzeigen und Sterbebilder aus Karolinas Sammlung unkommentiert gezeigt.
Erinnerung an Täter, Gewalttaten und Morde am Bodensee
Die
vorherigen Kapitel haben sich mit der Erinnerungs-
kultur in Sipplingen befasst. Hierbei hat der Leser sicherlich die Bilder und Namen von Menschen entdeckt, die nicht unmittelbar mit dem Dorf selbst verbunden
waren. Mit diesem Buch soll auch an sie erinnert werden. Denn im April 1945, gegen Ende des Kriegs, ereignete sich in der Umgebung von Sipplingen, eine große Zahl von Gewalttaten, denen viele
Menschen zum Opfer gefallen sind. Sie wurden begangen von SS-Angehörigen, Zivilisten, Parteifunktionären und französischen Soldaten. Racheakte, Vergeltung und unrechtmäßige Militärjustiz machten
sich damals in der Region breit. Zur Erinnerung an diese Kriegsopfer werden
hier die Endphase-Verbrechen in Wahlwies, Ludwigshafen, Hödingen und Sipplingen in gekürzter Form wiedergegeben. Detailliert beschrieben sind diese Ereignisse in der Publikation „Das Ende, eine
Spurensuche im Hegau, am Bodensee, in Vorarlberg.“
Um diese beispiellose Brutalität und Unmenschlichkeit der letzten Kriegstage in der Bodensee-Hegau-Region einordnen zu können, ist es notwendig einen Blick in deren Vorgeschichte zu werfen.
Der Auslöser der Ereignisse am Bodensee lag im Untergang des XVIII. SS-Armeekorps unter dem Kommando von SS-General Georg Keppler, im südlichen Schwarzwald. Noch war dies ein unbesetztes deutsches Gebiet, südöstlich des bald durch die Franzosen geschlossenen Schwarzwaldkessels. Keppler hatte mit Blick auf die herannahenden Franzosen seine Truppen freigestellt und ihnen befohlen, sich in Richtung der "Alpenfestung“ zurückzuziehen. Er selbst setzte sich mit einigen Männern seines Stabes in seine bayerische Heimat ab. Den Oberbefehl über dieses nun freigewordene und militärisch strukturlose Gebiet bekam gegen Mitte April 1945 das Armeeoberkommando (AOK) 24. Dieses war dem AOK 19 unterstellt. Das AOK 24 wurde bereits im Dezember 1944 aus dem Erkundungsstab Donaueschingen gebildet. Der kommandierende General war Hans Schmidt, ein Infanterie-General und kein SS-General, wie oft geschrieben wird. Seine Aufgabe bestand zunächst darin, Riegelstellungen zwischen der Schweizer Grenze am Hochrhein und an der Ostseite des Schwarzwaldes zu erstellen, um die Front der von Norden und Westen heranziehenden Franzosen aufzuhalten. Dazu fehlten ihm jedoch die notwendigen Kräfte.
Die Blutspur der SS Truppen bis Vorarlberg
Der Weg, den
die Führung der SS-Unterführerschule
Radolfzell in die „Alpenfestung“ genommen hatte, ist in
einem Dokument überliefert, das Willi Hille, damals Führer der Verwaltung der SS-Unterführerschule Radolfzell, nach Originalaufzeichnungen am 21. September 1972 angefertigt hatte. Die in diesem
Dokument beschriebenen Einsätze und Abläufe, zunächst im Hegau und am nördlichen Bodensee, später in Vorarlberg, wurden durch die führenden Offiziere und ihren unterstellten Angehörigen der
SS-Unterführerschule Radolfzell, die sich dem Kommando von General Schmidt entzogen hatten, kommandiert und auch ausgeführt.
Der Führung der SS-Unterführerschule ging es darum, den Vormarsch der französischen Truppen im aktuellen Frontgebiet zu verzögern, um sich selbst rasch absetzen zu können. Sie wollte in die „Alpenfestung“ gelangen, noch bevor die kämpfenden Truppenreste der 24. Armee den Arlbergpass erreichen konnten. Dabei sollte verdeckt werden, dass diese Absetzbewegung der SS-Führung in Wirklichkeit nichts anderes als eine Flucht vor der Gefangennahme war. Als hochrangige SS-Führer wollten sie unter keinen Umständen in französische Hände fallen, weil sie dort mit härtester Bestrafung rechneten.
Auf der östlichen Seite des Arlbergpasses, in St. Anton, begann die spätere amerikanische Zone in Österreich. Um auf diese Seite zu kommen, mussten sie die Eisenbahnlinie durch den Arlbergtunnel benutzen, da die Passstraße aufgrund der Schneeverhältnisse noch nicht befahrbar war. Die Führung der SS erreichte die Westseite des Arlbergpasses in Außerwald am 1. Mai 1945. Die führenden Offiziere der SS-Unterführerschule Radolfzell bekamen vom Leiter der Schule, Obersturmbannführer Willi Braun, am 2. Mai 1945 in Außerwald neue Pässe mit falschen Identitäten ausgehändigt, die vom Armeeoberkommando 19 hergestellt waren. Sie lösten offiziell die SS-Unterführerschule Radolfzell auf.
Danach setzten sich die SS-Offiziere, vier Tage vor der Ankunft der restlichen Truppen des AOK 24, zu Fuß ab. Ihr Fluchtplan war aufgegangen.