Mord an kranken
Menschen
Zu den unsichtbaren Opfern des Krieges in Deutschland gehörten auch die selektierten Kranken und Verwundeten aus Heilanstalten, Pflegeheimen und Krankenhäusern.
Sie wurden schon bald nach Beginn des Krieges über verdeckte Wege in Tötungsanstalten gebracht und dort von 1940 bis 1941 mit Gas und bis zum Ende des Krieges 1945 mit chemischen Stoffen getötet. Auch der Entzug von Pflege oder von Nahrung wurde gegen Ende der Kriegszeit zur Tötung dieser Menschen eingesetzt.
Ziel dieser unmenschlichen Ausrottungsaktionen war neben der Vernichtung „Unwerten Lebens“ die Freistellung von Betten, die dann als Lazarett- und Krankenhausbetten für Verwundete des Krieges und Verletzte der Bombenangriffe dienen sollten.
In den Aktionen, die unter der Bezeichnung „T4“ und „Aktion Brandt“ abliefen, wurden nach heutigem Wissen etwa 200000 Menschen getötet. Auch Bürger der Stadt Mülheim fielen diesen Aktionen zum Opfer.
Im Deutschen Reich gab es in der ersten Zeit der Euthanasieverbrechen von 1940 bis Ende 1941 sechs Tötungsanstalten, in denen etwa 70000 Menschen mehrheitlich mit Gas getötet wurden. Sie lagen in Grafeneck, Hadamar, Hartheim b. Linz, Sonnenstein b. Pirna und in Bernburg an der Saale.
In der Tötungsanstalt Hadamar, die zunächst als Gastötungsanstalt und danach bis zum Ende des Krieges in der zuvor beschriebenen Art in Funktion war, endete das Leben des Mülheimer Bürgers Paul T. am 20.6.1941 im Alter von nicht ganz 20 Jahren.
Seine Tötung wurde am 9.5.1941 vom Reichsverteidigungskommissar angeordnet.
Paul T. musste seinen Platz in der evangelischen
Pflegeeinrichtung Johannisthal bei Süchteln frei machen und wurde nach Andernach verlegt.
Andernach war das Vorzimmer des Todes für Hadamar. An seinem Todestag wurde er von der „Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft“ in einem grauen Bus aus Andernach abgeholt, nach Hadamar gebracht und getötet.
Paul war nicht allein in diesem Bus. Mit ihm befanden sich auf der letzten Reise einundvierzig arme, hilflose Menschen, alle ebenfalls aus Süchteln. Sie werden gewusst haben, was sie nach dieser Fahrt erwartet. Sie hatten niemanden, bei dem sie in ihrer Not Zuspruch hätten finden können. Sie hatten den Makel, vom nationalsozialistischen Staat als unnötige Esser, Kostenverursacher und nicht mehr Arbeitsfähige angesehen zu werden.
Nach dem Alphabet geordnet hatte die Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft die Menschen in Andernach zum Abtransport „bereitstellen“ lassen. 41 männliche Personen, Buchstabe J bis Z. liest man auf der Transportliste des 20.6.1941, ihrem Todestag.
Was mit den „fehlenden“ männlichen Personen Buchstabe A bis H und den weiblichen Personen Buchstabe A bis Z aus Süchteln geschah“, kann man nur ahnen.
Die Krankenakte von Paul T., die unter der Verlegungsanordnung die Unterschriften der damaligen Johannisthaler Anstaltsleitung und des zuständigen Abteilungsarztes trägt, ist mit seinem Todesurteil gleichzustellen.
2002 wurde zu diesem Thema vom Autor um ein Gespräch mit den Zuständigen der Rheinischen Kliniken Viersen gebeten, weil es Fälle gegeben hatte, in denen sich Heimleitungen weigerten, mit eigenem Personal Verlegungen zu Mordanstalten anzuordnen. Statt dieser Heimleitungen erledigten dann zugewiesene T4- Ärzte diese Aufgabe. Doch die Bitte um ein Gespräch zur Klärung der Frage, ob diese Unterschriften wirklich von Verantwortlichen aus Johannisthal stammten, oder nicht, wurde vom derzeit leitenden Direktor, ohne erkennbaren Willen sich mit dieser Fragestellung auseinander zu setzen, mit einem Fax beantwortet.
Bezugnehmend auf Ihre telefonische Anfrage teile ich Ihnen mit, dass Herr T. zu den Patienten zählt, die im Rahmen der Euthanasie ( T4- Aktion ) auf Anordnung des zuständigen Gutachterausschusses in der Tiergartenstr. 4, Berlin, in die Zwischenanstalt Andernach verlegt wurden, um von dort aus in Hadamar getötet zu werden.
Dieser im Fax genannte „Gutachterausschuss“ gehörte zur T4-Organisation der SS und traf seine illegalen Entscheidungen nach Aktenlage, setzte sein Todeskreuz unter den Fragebogen des Paul T, ohne ihn je gesehen zu haben. Paul und seine vierzig Mitpatienten waren tot. Einundvierzig Betten in Süchteln waren wieder frei.
Der unsensible Umgang der Leitung der Viersener Kliniken mit ihrer Vergangenheit erstaunt. Insbesondere vor dem Hintergrund des positiven Geschichtsverständnisses anderer an den Euthanasieverbrechen beteiligter Einrichtungen. Die Gedenkstätte Hadamar, die zum Landeswohlfahrtsverband Hessen gehört, veröffentlicht über ihre Vergangenheit.
Im November 1940 wurde die Anstalt Hadamar vom Oberpräsidenten der Provinz Hessen- Nassau an die Euthanasiezentrale in Berlin verpachtet und geräumt. Als sechste und letzte Gasmordanstalt ging sie damit in die dunkle Geschichte der NS-Psychiatrie ein. Von Januar bis August 1941 wurden im Keller der Anstalt in einer als Duschraum getarnten Gaskammer über 10000 Kinder, Frauen und Männer mit Kohlenmonoxydgas ermordet. Ihre Leichen wurden anschließend in Krematorien verbrannt. Zur Tarnung der Morde versandte die so genannte Trostbriefabteilung Sterbeurkunden mit falschen Todesursachen, die von einem Sonderstandesamt Hadamar-Mönchberg, ausgestellt wurden.
Die psychisch Kranken oder geistig behinderte Opfer kamen aus den Anstalten der Provinzen und Länder Hessen-Nassau, Hessen, Hannover, Rheinprovinz, Westfalen, Baden und Württemberg und wurden über Zwischenanstalten in den Tod transportiert.
Nach dem Euthanasiestopp im August 1941, bauten T4- Handwerker die Anstalt im Frühjahr 1942 zurück. Nichts sollte mehr an die verbrecherische Funktion erinnern. Doch als im August 1942 der alte Träger die Anstalt Hadamar wieder übernahm, ging das Morden weiter. Von den, aus dem gesamten Reichsgebiet bis 1945 aufgenommenen Kranken, verstarben im gleichen Zeitraum 4422Menschn, starb der größte Teil keines natürlichen Todes. Tagsüber selektierte der Anstaltsarzt die zur Ermordung bestimmten schwachen, kränklichen oder „aufsässigen“ Kranken. Nachts führten die Pfleger oder Schwestern den Todesbefehl mit überdosierten Medikamenten aus. Es waren zum Teil dieselben Personen, die schon 1941 an den Gasmorden beteiligt gewesen waren.
Unter die Hadamarer Opfer fielen ab 1943 „halbjüdische Fürsorgezöglinge“, tuberkulosekranke Zwangsarbeiter und Arbeiterinnen mit ihren Kindern, sowie psychisch kranke SS-Angehörige und Soldaten. Die Leichen der Ermordeten wurden ab 1942 auf einem neu eingerichteten Anstaltsfriedhof in Massengräbern bestattet. Der Friedhof ist seit 1964 eine Gedenkstätte. Im heutigen Zentrum für Soziale Psychiatrie in Hadamar befindet sich seit 1983 eine Gedenkstätte für die Opfer der NS-Euthanasieverbrechen.
Gedenkstätte Hadamar
Trotz aller Versuche der Geheimhaltung war die Kenntnis über die Euthanasieverbrechen in der Bevölkerung weit verbreitet. Im Sommer 1940 wurden von mehreren, meist kirchlichen Stellen, Proteste gegen die Euthanasieverbrechen laut. Im August des gleichen Jahres verbot die Bischofskonferenz ihren Religionsangehörigen die aktive Teilnahme am Abtransport der Patienten. Kardinal von Galen richtete 1941 drei Euthanasiepredigten an die Menschen in seiner Umgebung. Seine dritte Predigt wurde tausendfach gedruckt und in der Bevölkerung verteilt. Am 24.8.1941 wurde ein Euthanasiestopp erlassen, da die Tötung in den einzelnen Anstalten nicht mehr zu verheimlichen war.
Es folgte nun bis zum Ende des Krieges eine geheime und intensivierte Fortsetzung der Euthanasiemorde mit anderen Mitteln. Statt die Menschen in den Gaskammern oder Gaswagen der Tötungsanstalten sterben zu lassen, bediente sich die T4 Organisation des Pflegeentzuges, des Verhungerns, des Tötens durch Giftinjektionen oder durch Injektionen mit überdosierten Schlaf- und Betäubungsmitteln.
In den Jahren 1943 bis 1945 wurden ganze Bahntransporte mit Verletzten der Bombenangriffe oder anderen schwer kranken Menschen, in den mittlerweile im gesamten Reichsgebiet und in den besetzten Gebieten vorhandenen „Heilanstalten und Krankenhäusern“, die die neue Form der Krankenmorde anwendeten, gebracht. Im Inventarverzeichnis des Bundesarchivs werden, neben den bekannten Tötungsanstalten der ersten Phase der Euthanasie, etwa 600 zusätzliche Kranken- und Pflegeanstalten genannt, aus denen Euthanasiepatientenakten archiviert sind.
Eine entscheidende Rolle spielte in diesem Zusammenhang wieder Dr. Brandt, der T4 Tötungsorganisation. 1942 zum Generalkommissar und 1944 zum Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen ernannt, oblag es ihm allein, über die Zahl der freizustellenden Betten in einer Stadt zu entscheiden. Seine Anordnung war eine Entscheidung über Leben oder Sterben der meisten Menschen eines solchen Transportes. So mussten auf seine Anordnung am Tag nach dem Luftangriff des 23.6.1943 auf unsere Stadt, 200 Betten in Mülheimer Krankenhäusern freigemacht werden.
Am 24.6.1943 telefonierte er ( Brand ) mit dem
Anfang 1943 zum Generalreferenten für Luftkriegsschäden ernannten Fritz Cropp aus Contis Abteilung im Reichsinnenministerium, wobei er mitteilte, das er auf Bitten des Gauleiters von Essen die
Anweisung zum Abtransport von je 200 Kranken aus Duisburg und Mülheim gegeben habe.
Vermerk Cropp, BAK Signatur R18/3791).
Zwangssterilisation und Euthanasie im Rheinland, Bd. 116 Uwe Kaminski
Es könnte sein, dass die Anweisung Brandts ausgeführt wurde, denn es war für jedermann schwer sich solchen Befehlen zu widersetzen. Eine Aufklärung möglicher Aktionen, die dieser Anordnung folgten, ist jedoch nicht mehr gelungen. Das Fehlen von wesentlichen Akten des Gesundheitsamtes der Stadt, sowie die Unauffindbarkeit aller Akten der NSV-Mülheim, sind der Grund.
Auch eine intensive Suche nach eventuell noch vorhandenen Patientenunterlagen in den Mülheimer Krankeneinrichtungen blieb leider ohne Ergebnis. Patientenakten oder Belegungsbücher aus dieser Zeit, die über die Aufnahme und Entlassung von Patienten Auskunft geben könnten, wurden nicht archiviert.
Sicher ist, dass am Tag nach dem Luftangriff vom 23.6.1943 ein Zug mit Kranken und verletzten die Stadt verlassen hat.
Auch am Tag nach dem Luftangriff auf den Flughafen Essen- Mülheim vom 24.12.1944 verließ ein Transportzug mit schwer verletzten Menschen des Angriffes und Schwerkranken den Bahnhof Broich. Dieser fuhr in den Osten, in die Gegend von Schwerin. Von dort aus kehrte eine Verletzte des Angriffes vom 24.12.1944 im Herbst 1945 zurück, nachdem sie vor sowjetischen Truppen aus einer Heilanstalt geflohen war. Eine Patientin, die an Krebs erkrankt war, starb. Es fällt schwer zu glauben, dass diesen schwerverletzten und schwerkranken, zum Teil nicht transportfähigen Menschen irgendwo im Osten wirklich geholfen werden konnte.
Da die in der zweiten Phase der Euthanasie, nach dem Euthanasiestopp von 1941, getöteten Menschen mit ganz normalen Sterbeurkunden registriert wurden, und weil die Sterbeurkunden am Sterbeort verwahrt werden, wird die Suche nach diesen Euthanasieopfern aus Mülheim zusätzlich erschwert.