Volkstrauertag 2011 Ökumenischer Gottesdienst am 13. November
St. Martinskirche Sipplingen
Gedanken zu Trauer und Frieden von Elmar Wiedeking
Heute sind wir zum sechsten Mal am Volkstrauertag zu einem ökumenischen Gottesdienst
versammelt, um den Opfern der Kriege und der Gewalt nahe zu sein. Wie jedes Mal konfrontiert uns dieser Gottesdienst mit den Worten Frieden, Erinnerung, Gedenken und
Versöhnung.
Damit hinter diesen einfachen Worten ihre jeweiligen Sinninhalte zum Vorschein kommen, müssen wir uns auch heute wieder mit ihnen beschäftigen. Wir müssen die Sinninhalte in unser Denken und Handeln einbetten, auch, wenn es uns Mühe macht und gelegentlich sogar Schmerz bereitet. Unterlassen wir dieses Bemühen, verändern sich die Sinninhalte dieser Worte im Laufe der Jahre zu leeren, nahezu sinnlosen Worthülsen.
Das Wichtigste für die Menschen ist der Frieden. Ohne Frieden bleibt alles in der Welt unvollkommen. Nur wo Frieden herrscht, kann es keinen Krieg geben. Doch ein Blick in unsere gegenwärtige Gesellschaft bestätigt geradezu, dass diese gerade genannte Friedensvorstellung dem Denken und Handeln in der heutigen Zeit nicht entspricht.
Es gibt immer noch Kriege und politische Gewalt in der
Welt. Fast täglich kommen neue Kriege hinzu. Auch unser Land steht noch im Krieg, in Afghanistan und an anderen Orten. Vom Frieden in der Welt sind wir weit entfernt.
Trotz dieser Realitäten wäre es unbillig diesen eingangs genannten Friedensgedanken, als Spinnerei abzutun oder ihn grundsätzlich in Frage zu stellen. Denn die Erkenntnis, dass Frieden die einzige
Lebensform zur Vermeidung von Krieg darstellt, ist eine wichtige Zielvorstellung für alle Menschen. Ich glaube, jeder kennt sie, weiß aber nicht, ob und wie diese Vorstellung zu realisieren
ist.
Letztlich bleibt uns nur der Glaube, dass es Frieden geben kann.
Nur unser auf Gott, seine Güte und Macht, bezogener
Glaube zeigt uns Menschen den Weg, wie wir dem Frieden zustreben können, um ihn in Zukunft zu erreichen. Denken wir immer daran, dass alle Menschen als Gottes Ebenbild geschaffen sind. Tun wir alles,
um dieses Ebenbild auch in unseren Feinden zu sehen. Schaffen wir Frieden in uns selbst und in unserem Umfeld. Verankern wir unseren Wunsch nach Frieden für die Menschen in unserem Gebet und in
unserem Denken. So werden wir sicherer in unserem Tun, und lassen uns durch Misserfolge nicht ablenken.
Wir müssen empfindsamer reagieren, wenn der Frieden in Gefahr gerät. So werden wir frühzeitiger radikale Strömungen oder radikale Einzelmeinungen in unserer Gesellschaft erkennen, die den Frieden zerstören, weil sie die Ausgrenzung von Menschen und Gewalt gegen sie im Sinn haben. Gerade haben wir mit Entsetzen gesehen, wie ein radikaler Einzelner, durch einen Massenmord in Norwegen unsagbares Leid angerichtet hat.
Wehren wir uns mit aller Kraft, mit den Mitteln des legitimen, demokratischen Widerstands, mit den Mitteln unserer Intelligenz und unseres Rechtstaates, gegen alle, die für die Probleme beim Zusammenleben der Menschen gewalttätige Lösungen anbieten.
Heute möchte ich Ihre Erinnerung auf die letzten Kriegstage des 2. Weltkriegs in unserer unmittelbaren Umgebung lenken. Es sind die Tage zwischen dem 21. und 25. April 1945. In diesen wenigen Tagen wurde die ganze Verrohung von Menschen sichtbar.
Angeführt durch die menschenverachtende Denkweise des Nationalsozialismus begingen sie eine Vielzahl von schwersten Straftaten.
Papst Benedikt XVI. hat in seiner Rede vor dem Deutschen
Bundestag, am 22. September 2011, grundlegende Aussagen zu dieser Verrohung der Menschen gemacht. Er sagte: „Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Frieden schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, der ihm überhaupt die
Möglichkeit politischer Gestaltung eröffnet. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet. Erfolg kann auch Verführung sein
und kann so den Weg auftun für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit. Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande - hat der heilige
Augustinus einmal gesagt.
Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, dass diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, dass Macht von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, dass Macht
das Recht zertreten hat. Und dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde. Zu einer sehr gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben
konnte.
Von dieser Überzeugung her haben die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime gehandelt und so dem Recht und der Menschheit als ganzer einen Dienst erwiesen.
Für diese Menschen war es unbestreitbar evident, dass geltendes Recht in Wirklichkeit Unrecht war“.
Besonders in den letzten Kriegstagen, die zugleich die letzten Tage des Dritten Reichs
waren, zertrat die nationalsozialistische Macht das Recht in vielfältiger Weise. Soldaten, militärische Befehlshaber, Politiker aber auch Menschen aus der Bevölkerung traten das Recht mit Füßen. Sie
übten Macht über Leben und Tod von Menschen aus.
Jeder Soldat wusste, dass er auf Befehl im Krieg Menschenleben auszulöschen hatte. Er geriet in das Dilemma mit dem Gottesgebot „Du sollst nicht töten“. Er sah die zerfetzten Leiber der Toten auf dem Kampffeld. Er erlebte seine Todesangst. Das waren für ihn traumatisierende Erfahrungen. Diese traumatisierenden Erfahrungen stellten hohe Anforderungen an die Moral, an die Ethik und psychische Standhaftigkeit eines jeden Soldaten.
Um selbst zu überleben verordnete er sich meistens Härte im Kampf, gegen sich selbst und gegen andere. Doch letztendlich blieb er ein menschlicher Soldat.
Aus Härte und Fanatismus entwickelten jedoch eine nicht unerhebliche Zahl von Soldaten im Laufe der Kriegszeit die Rohheit und schließlich die vollständige Gefühllosigkeit dem Gegner gegenüber. Sie sahen nicht mehr den Menschen im Gesicht des Gegners. Sie befolgten erkennbar unrechtmäßige Befehle, sie töteten aus eigener Entscheidung, nach Gutdünken und wurden so zu Gewalttätern.
Aus der Sicht hoher nationalsozialistischer Befehlsgeber der Politik und des Militärs, stellten sich moralisch ethische Fragen zur Kriegsführung in den letzten Tagen so gut wie nicht. Ihr oberstes Ziel war stets das Erreichen eines militärischen Erfolgs. Sie schreckten grundsätzlich nicht davor zurück, Straftaten zu befehlen. Je aussichtsloser die militärische Lage zum Ende des Krieges wurde, desto machtbestimmter und zugleich auch brutaler und ungesetzlicher wurden ihre Befehle.
In einem Befehl vom 18. März steht zu lesen:
„Es muss durchgegriffen werden. Es gilt sofort Exempel zu statuieren, die Abschrecken und die Kampfmoral festigen“.
Nur drei Tage später, am 21. März, drohte ein Befehl jedem Soldaten oder Zivilisten mit der Todesstrafe:
„Wir setzen uns nicht ab, wir kämpfen! Wer dennoch ohne Befehl seinen Standort verlässt, kommt vor ein Standgericht. Über sein Ende kann kein Zweifel bestehen“.
Acht Tage darauf, am 29. März, stand in einem Befehl:
„Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen. Es darf bei dieser Maßnahme keinen Augenblick gezögert werden“.
Kurz vor dem Kriegsende, am 13. April, lautete ein Befehl:
„Gegen Soldaten, die ohne Waffen und ohne Grund aufgefangen werden ist mit schärfsten Mitteln, Todesstrafe, einzuschreiten“.
Erkennbar unrechtmäßige Befehle, wie die zuvor zitierten, die gegen die eigene Bevölkerung oder gegen eigene Soldaten gerichtet waren, wurden von nationalsozialistischen Fanatikern, Angehörigen der Waffen-SS und der örtlichen NSDAP-Parteiorganisationen, begeistert ausgeführt. Diese Befehle entsprachen ihrem menschenverachtenden Denken. Damit begründeten sie ihre Gewaltverbrechen und ihre persönlichen Racheakte in der Endkriegsphase, in der das Dritte Reich unterging. Opfer ihrer Straftaten wurden deutsche Zivilpersonen, deutsche Soldaten, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter.
Alle Opfer waren Menschen die entweder aktiven Widerstand gegen die unsinnige Zerstörung ihrer Heimat geleistet hatten, oder die durch ihren inneren Widerstand gegen das Nazisystem den Unwillen ihrer Rächer erregt hatten.
So wurden dreißig unschuldige Menschen, die legalen Widerstand geleistet hatten, ganz in unserer Nähe in nur wenigen Tagen des April 1945 ermordet. In Mahlspüren i.H. wurden am 21 April 1945 zwei Menschen, ein Landwirt und seine Schwiegertochter, erschossen.
Am gleichen Tag starben unter den Kugeln der SS vier Volkssturmmänner in Wahlwies. In Ludwigshafen fielen am 23. April 1945 drei deutsche Soldaten und ein niederländischer Zwangsarbeiter in die Hände ihrer Rächer, sie wurden ebenso erschossen.
In Stockach töteten am gleichen Tag fanatisierte deutsche Soldaten in einem Massaker achtzehn Menschen. Darunter französische und russische Kriegsgefangene, italienische, polnische und französische Zwangsarbeiter.
Am 24. April ließ in Hödingen ein achtzehnjähriger junger deutscher Soldat bei einer Exekution durch die SS sein Leben. In Singen wurde in der Nacht des gleichen Tages durch ein Mordkommando Bürgermeister Bäder erhängt.
In Sipplingen-Süßenmühle erschossen tags darauf, am 25. April,
SS-Angehörige einen polnischen Zwangsarbeiter.
Diese dreißig unschuldigen Menschen sind nicht bei Kampfhandlungen getötet worden, sondern starben wehrlos durch die Hände fanatischer Nationalsozialisten.
Während des Übergangs vom Nationalsozialismus zur Besatzungszeit, im April und Mai 1945, wurde von Zeugen und Mitwissern solcher Gewalttaten, vielleicht aus Furcht, vielleicht aus Zustimmung oder Desinteresse, geschwiegen. Denn als nach Kriegsende, im Oktober 1945, die deutsche Justiz wieder arbeitete, nahmen nur wenige Zeugen und Mitwisser die Gelegenheit wahr, etwas zur Aufklärung der Gewalttaten der jüngsten Vergangenheit beizutragen.
Viele der lebenden Zeugen schweigen heute noch. So wurden nur wenige dieser Mordfälle strafrechtlich untersucht, die Täter ermittelt und zur Verantwortung gezogen.
Ich möchte ihnen zum Ende meiner Ausführungen noch einmal einige schon eingangs zitierte Worte des Papstes Benedikt XVI. ans Herz legen, da ich sie für besonders wichtig halte. Er sagte:
„Wir haben erlebt, dass Macht von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, dass Macht das Recht zertreten hat. Und dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde.
Von dieser Überzeugung her haben die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime gehandelt.
Für diese Menschen war es unbestreitbar evident, dass geltendes Recht in Wirklichkeit Unrecht war“.
Benedikt XVI. wusste genau, wovon er am 22. September vor dem Bundestag sprach, denn er hatte sich als junger Mann im April 1945, zur gleichen Zeit als die zuvor beschriebenen Ereignisse und Rechtsbrüche geschahen, seiner Einberufung zum Fronteinsatz entzogen. Er war desertiert, nachdem er zuvor die Schrecken und die Lüge des Krieges als Luftwaffenhelfer und im Arbeitsdiensteinsatz am eigenen Leib erfahren hatte. Er hatte sich deutlich gegen den Krieg und für den Frieden entschieden. Und weil er sich nicht schuldig machen wollte, hatte er alle damit verbundenen Risiken für sein Leben auf sich genommen.
„Das war zu dieser Zeit lebensgefährlich, denn die SS hatte den Befehl, Deserteure standrechtlich zu erschießen oder zur Warnung an Nachahmer am nächsten Baum aufzuhängen“ schrieb sein Bruder Georg in seinem Buch „Mein Bruder, der Papst“.
Mit Glück, das der desertierte achtzehnjährige unbekannte Soldat in Hödingen nicht hatte, entkam der achtzehnjährige Joseph Ratzinger einer Militärkontrolle und seiner möglichen Exekution. Er kam heil nach Hause. Doch aktuell und hautnah hatte er die Angst um sein Leben und die Last seiner möglichen Schuld im Krieg zu spüren bekommen.