Spurensuche Menschen im Krieg
SpurensucheMenschen im Krieg

Die letzten Tage in Au und Schoppernau im Bregenzerwald 

Vortrag Elmar Wiedeking, Erinnerungsabend 24. Juli 2015

 

Sehr geehrte Damen und Herren.

 

Ganz herzlich möchte ich mich bedanken, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, heute Abend zu Ihnen zu sprechen. Heute, 70 Jahre nach den Ereignissen, möchte ich Rückschau halten auf eine schwere Zeit, die die Menschen auch hier durchmachen mussten.

Dabei wollen wir auch an die Menschen denken, die den Zeitereignissen zum Opfer gefallen sind und ihr Leben nicht  würdevoll bis zu seinem Ende gestalten und leben konnten. Die Denkmale, die ihnen in Ihren Orten gesetzt worden sind, werden ihre Namen immerdar erhalten.

Widmen möchte ich meinen Vortrag all denen, die in der schwierigen Zeit der Besatzung und auch noch danach dieses Land wieder aufgebaut und zu dem gemacht haben, was es heute ist. Ein Juwel unter den Regionen  ihres Staates.

Ganz besonders möchte ich all denen danken, die mir geholfen haben Erkenntnisse über die Zeitereignisse in ihren Orten zu sammeln. Dazu gehören nicht zuletzt die Aufzeichnungen der Schüler und Lehrer der Schule in Au, die mir eine wesentliche Hilfe waren.

 

Vortrag Elmar Wiedeking beim Erinnerungsabend in Au am 24. Juli 2015. Foto M. Wiedeking

 

Die Erinnerung an die letzten Kriegstage in Au und Schoppernau, Ende April bis Anfang Mai 1945, sind das Thema des heutigen Abends. Gehen wir gemeinsam diesen Weg zurück in die Vergangenheit, die für viele unter Ihnen heute noch mit schmerzlichen Erinnerungen verbunden sein wird. In diesen beiden Monaten ging die Welle eines mörderischen Krieges auch über Vorarlberg und andere Länder Österreichs.

Au und Schoppernau  wurden am 10. Mai 1945 von den französischen Truppen besetzt. Ich möchte Ihnen berichten, wie es in diesen Wintertagen in den Orten zugegangen ist und  welche einschneidenden Ereignisse diese Tage geprägt haben. Doch zu Beginn müssen wir uns noch ein wenig mit der  Vorgeschichte der Besetzung befassen. Dazu möchte ich Ihnen kurz die militärische Situation der deutschen und alliierten Truppen aufzeigen, die dann schließlich mit der Einnahme der beiden Orte  endete.

 

Die militärische Situation der Alliierten und Deutschen
Am 15. bis zum 18. August 1944 landeten die alliierten Truppen, dabei auch die französische B-Armee unter dem Kommando von General Lattre de Tassigny, im Zuge der Operation „Anvil“ in Südfrankreich an der Mittelmeerküste, zwischen St.Tropez und Marseille. Diese Truppen  zogen durch das Rhonetal nach Norden. Etwa 6 Monate nach der Landung an der Mittelmeerküste überschritt das 2. Französische Armeekorps am 30. März 1945, zusammen mit den Truppen der 7. US-Armee, nach heftigen Kämpfen mit deutschen Truppen, bei Speyer den Rhein. Zwei Wochen nach diesem  ersten Rheinübertritt, am 16. April 1945, stand das 1. Französische Armeekorps auf deutschem Boden bei Kehl am Rhein und rückte auf Freudenstadt im Nordschwarzwald vor. Der Beginn der Befreiung von Südwestdeutschland, Vorarlberg und Tirol von der Nazi-Diktatur war gelegt.

 

Französische Vormarschrouten

Eine Vormarschroute der Franzosen nach Vorarlberg führte vom Oberrhein, über Schwarzwald und Hegau, entlang des Bodensees, über das österreichische Rhein- und Klostertal zum Arlbergpass.

Eine zweite Route führte entlang der Donau nach Ulm, dann südlich  weiter über das deutsche Allgäu in den Bregenzerwald.

 

Aus: Jean de Lattre de Tassigny, Histoire de Première Armée Francaise Rhin et Danube, Libraire Plon 1949

 

Rückzug der 1. und 19. Armee aus Frankreich

Die deutsche 1. Armee, die zuvor im Bereich der westfranzösischen Atlantikküste lag, und die deutsche 19. Armee, von der südfranzösischen Mittelmeerküste, zogen sich unter großen Verlusten in heftigen Kämpfen gegen die Alliierten und Résistance-Gruppen, in Richtung auf die deutsche Reichsgrenzen am Oberrhein   zurück.

Das in Deutschland zur Verteidigung gegen die Franzosen angetretene XVIII. SS-Armeekorps, unter dem Kommando von SS-General Georg Keppler, befand sich zu dieser Zeit im mittleren und südlichen Teil des Schwarzwaldes und wurde in wenigen Tagen nach heftigen Kämpfen vom 1. und 2. französischen Armeekorps eingekesselt. 

Deshalb löste Keppler das XVIII. SS-Armeekorps am 26. April 1945 auf und gab den Soldaten, die mehrheitlich Wehrmachtssoldaten und keine Angehörigen der Waffen-SS waren, den Befehl, sich nach Osten oder in die  sogenannte „Alpenfestung“ abzusetzen.
Als „Alpenfestung“ wurde der Raum entlang der Alpen zwischen der Ostseite des Arlbergs und der Region um Salzburg betrachtet. Die Alliierten nahmen an, dass es hier zu schweren Gefechten mit den deutschen Truppen kommen könnte. Erst später stellte sich heraus, nachdem Franzosen und Amerikaner im Bereich der „Alpenfestung“ ankamen, dass es dort fast nur noch abgekämpfte deutsche Truppen gab, die den Krieg lieber heute als morgen beendet hätten.

 

Deutsche Armeeoberkommandos
Nach dem Übergang der französischen und amerikanischen Truppen über den Rhein, befanden sich im Kampfgebiet Südwestdeutschland folgende deutsche Armeeoberkommandos mit ihren Truppen: Das  AOK 1, das  AOK 64, das AOK 19 und das AOK 24. Für unsere weiteren Betrachtungen in Vorarlberg und im Bregenzerwald sind nur das AOK 19 und das AOK 24 wichtig.

 

General Hans Schmidt

Die Kommandeure des AOK 19 hatten sich weiträumig und frühzeitig in Richtung „Alpenfestung“ abgesetzt und sind so allen Gefährdungen und Kämpfen aus dem Weg gegangen. Ihre Truppen unterstellten sie General Hans Schmidt vom AOK 24 oder überließen sie ihrem eigenen Schicksal. Diese Truppen  erlitten auf ihrer Flucht durch das Allgäu in den Bregenzerwald in Kämpfen mit Amerikanern und Franzosen große Verluste an Menschen.

Das AOK 24 wurde erst Mitte April 1945 gebildet und war dem AOK 19 unterstellt. An seiner Spitze stand der Infanteriegeneral Hans Schmidt. Zu dieser Zeit war er 65 Jahre alt und schon aus dem aktiven Militärdienst entlassen. Er wurde eigens für diese neue Aufgabe, eine 24. Armee aufzustellen und zu kommandieren, reaktiviert.

Am 21. April verließ Schmidt mit seinem Stab sein Ruhequartier in Mühlingen auf der Schwäbischen Alb und wechselte nun als Oberkommandierender des AOK 24 in die Kaserne der SS-Unterführerschule Radolfzell.

Psychisch und auch physisch war er seinem neuen Kommando nicht gewachsen. Er wurde zur  Marionette der Führung des AOK 19 und der führenden Offiziere der SS-Unterführerschule Radolfzell.

Die Führungsschwäche von Schmidt nutzten  Offiziere und Mannschaften der SS-Unterführerschule, die sich zum Teil schon vor dem 20. April 1945 selbstständig auf die Flucht in die „Alpenfestung“ machten. Der Rest der SS-Truppen verschwand ebenfalls kurz darauf aus der Kaserne in Richtung Arlberg.

Nominell verfügte General Schmidt zu dieser Zeit über etwa 960 SS-Soldaten, die sich jedoch nicht von ihm kommandieren ließen. Diese „Soldateska“ überflutete, aufgeteilt in verschiedene Kampfgruppen, den Raum Hegau, Bodensee und Vorarlberg. Sie war im Wesentlichen für die übergroße Präsenz der SS und viele Gewalttaten in den einzelnen Rückzugsorten im Rheintal und im Bregenzerwald auf dem Weg in die „Alpenfestung“, verantwortlich.

General Valentin Feurstein
Am 23. April 1945 begann General Schmidt vom AOK 24 mit seinem Stab seinen persönlichen Rückzug aus der  SS-Unterführerschule in Radolfzell in die „Alpenfestung“ nach Vorarlberg. Am 29. April übernahm er von General Valentin Feurstein  in Bregenz das Kommando über alle Truppen in Vorarlberg.

 

Kapitulationsverhandlung des AOK 24 in Überlingen

Schon am 3. Mai wurden das deutsche Armeeoberkommando 19 und das Armeeoberkommando 24 von der Heeresgruppe G, unter dem Kommando von General Kesselring, aufgefordert, mit den zuständigen amerikanischen und französischen Kommandostellen Verbindung aufzunehmen, um

für die amerikanisch-deutsche Front und die französisch-deutsche Front im Bereich Vorarlberg und Tirol Kapitulationsverhandlungen vorzubereiten.

Dementsprechend wurde am 4. Mai 1945 in Überlingen am Bodensee   auf Befehl von General Hans Schmidt ein Kapitulationsangebot der 24. Armee an den Oberbefehlshaber der französischen Truppen, General Jean de Lattre de Tassigny, übergeben. Am 5. Mai 1945 um 18.00 Uhr trat für Vorarlberg das Kapitulationsabkommen des AOK 24 mit der französischen Armee und auch mit der amerikanischen Armee in Kraft.
Schmidt war als kommandierender General bis zu dieser Kapitulation für alle militärischen Aktionen in Vorarlberg verantwortlich. Sein letzter Befehlsstand befand sich in St. Anton am Arlberg. Einen Kommandowechsel auf eine andere Person hat es nicht gegeben, auch nicht auf Generalleutnant Ludwig Merker, wie irrtümlich in der Literatur berichtet wurde.

 

Aus: Jean de Lattre de Tassigny, Histoire de Première Armée Francaise Rhin et Danube, Libraire Plon 1949

 

Die Ereignisse in Au und Schoppernau
Nach diesem Ausflug in die militärische Vorgeschichte der französischen Befreiung Vorarlbergs zurück zur Ortsgeschichte von Au und Schoppernau. Hier bei Ihnen trafen die französischen Besatzungstruppen am 10. Mai 1945 ein, fünf Tage nach der Teilkapitulation des AOK 24 und zwei Tage nach der deutschen Gesamtkapitulation am 8. Mai 1945. Die Orte des vorderen und des mittleren Bregenzerwalds waren bereits zwischen dem 1. und 5. Mai 1945 besetzt worden. An diesem Tag rückten die französischen Truppen mit 2 Kompanien in beide Orte, Au und Schoppernau, ein. Sie gehörten zum 6. Regiment Tirailleurs Marocains, einem Marokkanischen Schützenregiment der französischen Kolonialtruppen. In Au befand sich die dritte Kompanie und in Schoppernau die vierte. Der Kommandeur und sein Stab hatten ihr Quartier in der Krone in Au. General Lattre de Tassigny hatte keine Eile zur Besetzung der beiden Orte an den Tag gelegt. Er wusste, dass er sich Zeit lassen konnte, um Aufgaben zu erledigen, die ihm wichtiger erschienen. Denn wohin sollten die in Ihren Orten eingeschlossenen Soldaten fliehen? Wege und Straßen waren noch tief verschneit und nur ganz wenigen gelang die Flucht über die Berge ins Kleine Walsertal oder in Orte  des Rheintals. Hunderte Soldaten, die nicht mehr wussten wohin sie gehen sollten, suchten hier bei Ihnen Unterkunft, Versorgung und Zivilkleidung. Liegengelassene Fahrzeuge,  weggeworfene Waffen und Ausrüstungen bereiteten in den Orten große Probleme. In einem Augenzeugenbericht aus Au findet man einen hilflos anmutenden Aufruf der damaligen provisorischen Ortsbehörde. Danach sollten alle Fremden bis zum 5. Mai das Tal verlassen, weil der Einmarsch der französischen Besatzungsmacht jeden Tag zu erwarten war. Der Ortsgruppenleiter Spöttel aus Schoppernau, der sich eigentlich um die Belange der Bewohner und um die Aufrechterhaltung der Ordnung hätte bemühen müssen, war einige Tage zuvor schon verschwunden. Ein Teil der im hinteren Bregenzerwald endgültig eingeschlossenen deutschen Soldaten versuchte, sich vor den in Kürze auftauchenden französischen Truppen zu verstecken und zog sich auf entlegene Berghütten oder in landwirtschaftlich genutzte Gebäude in den Orten zurück. Der größte Teil dieser versteckten Soldaten hoffte, der Gefangennahme durch die Franzosen zu entgehen, um später unbemerkt und kampflos in die Heimat zurückkehren zu können. Es ist auch sicher, dass sich in dieser Zeit Soldaten versteckt hielten, die sich noch vor dem Eintreffen der Franzosen mit Proviant und Waffen versorgt hatten, um später, nach der Kapitulation, die französische Besatzungsmacht zu bekämpfen. Das Zusammenleben der Soldaten und Offiziere der Besatzungsmacht mit den Bewohnern von Au und Schoppernau gestaltete sich nach anfänglichen Schwierigkeiten relativ reibungslos. Sie alle begegneten sich meistens mit gegenseitigem Respekt. Hass und Anfeindungen waren eher selten. Und doch gab es auch immer wieder angstvolle Augenblicke für die einheimische Bevölkerung, erzählte mir Kathrin Manser. Laura Lingg erinnerte sich an die marokkanischen Soldaten. Ich zitiere hier aus dem Bericht der Schüler des Geschichts-projekts der Hauptschule in Au: Bei ihren Festen, bei denen sie Schafe grillten, brachten sie ihre eigenen, zum Teil dunkelhäutigen Frauen mit. Diese waren im Üntschele untergebracht. Es wurde getanzt und gesungen. Feste haben sie gerne gefeiert, dazu haben sie Kränze vom Friedhof als Dekoration genommen.

 

Schoppernau ca. 1938. Archiv E. Wiedeking
Au mit Kirche und Friedhof ca. 1950. Archiv E. Wiedeking

 

Generalleutnant Ludwig Merker

In meinen Recherchen habe ich das Glück gehabt Hans Dieter Merker aufzuspüren, der 1945 als Adjutant seines Vaters Ludwig in Schopperau und Au gewesen ist. Dadurch ist es gelungen Informationen aus erster Hand zu bekommen, die als Augenzeugenberichte zu werten sind. Doch auch bei dieser guten Quellenlage muss mit gelegentlicher „Schönfärberei“ und Auslassungen des Zeugen gerechnet werden. Insgesamt jedoch habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Gespräche mit Hans Dieter Merker auf einer stabilen Vertrauensbasis abgelaufen sind. Zusätzlich stand mir neben anderen Informationsquellen noch Ludwig Merkers komplette Akte der Entnazifizierungs-Spruchkammer zur Verfügung. Bevor die Franzosen auch den hinteren Bregenzerwald besetzten, kam am 3. Mai 1945 Generalleutnant Ludwig Merker mit seinem Stab, der sich einige Tage zuvor aus Münsingen auf der schwäbischen Alb in die „Alpenfestung“ abgesetzt hatte, nach Schoppernau. Zuvor war Generalleutnant Merker Kampfkommandant von Wien gewesen. Weil er angeblich zu „weich“ war wurde er von seinen Vorgesetzten seines Postens enthoben  und in die sogenannte „Führerreserve“ nach Münsingen auf der Schwäbischen Alb  entlassen. Sein damaliger Vorgesetzter in Wien war der vormalige Reichsjugendführer Baldur von Schirach, der sich mit Vehemenz für Merkers Enthebung eingesetzt hatte.
Merker kam direkt aus Schwarzenberg nach Schoppernau und bezog im Haus des Ortsgruppenleiters Franz Spöttl Quartier. Spöttl hatte  jedoch zuvor schon den  Ort verlassen. Hans Dieter Merker berichtete mir in einem Gespräch, dass er mit seinem Vater und seiner Mutter nach Kriegsende noch mehrmals zu Ferienaufenthalten nach Schoppernau gefahren sei. Der Kontakt mit der Familie Spöttel hat demnach relativ lange bestanden. Nach eigenen Angaben in seiner Entnazifizierungsakte hatte Ludwig Merker vor, einen „Auffangstab“ im Bregenzerwald zu bilden, eine Aufgabe, die militärisch nicht zu definieren ist. Er hatte nie einen Befehl, irgendein Kommando im Bregenzerwald oder in Vorarlberg auszuüben. Nach den Ergebnissen meiner Recherchen befand  sich Ludwig Merker eindeutig auf der selbst organisierten Flucht vor den Franzosen, wie viele andere deutsche Soldaten auch. Lediglich die Angehörigen seines Stabes und die jungen SS-Panzergrenadiere aus der Napola Rottweil unterstanden seinem Kommando. Letztere auch erst nach seiner Ankunft  in Schoppernau. Ludwig Merker ist es durch sein geschicktes Taktieren gelungen, zusammen mit seinem Stab, zu dem auch sein Sohn Hans Dieter als Adjutant gehörte, das Kriegsende zu erleben und den Übergang in die neue, nicht mehr nationalsozialistische Zeit zu finden. Mit Generalleutnant Ludwig Merker kamen sein Adjutant Leutnant Hans-Dieter Merker, Stabsoffizier Hans Bock, Fräulein Kimmig, eine Angehörige der Dienststelle Fremde Heere aus Berlin, der württembergische Innenminister Jonathan Schmid und eine Handvoll Soldaten mit nur wenigen Fahrzeugen. Es war eine illustre Schar hochkarätiger Leute vom Militär, der Politik und aus dem Bereich des Reichsicherheitshauptamts, die alle unter der Führung von Ludwig Merker in Schoppernau nur das eine Ziel hatten, möglichst ungeschoren die Kriegsendzeit zu überstehen.
Generalleutnant Merker ging in Schoppernau alsbald der Ruf voraus ein Hardliner zu sein und der Waffen-SS anzugehören, der den Ort unter allen Umständen gegen die anrückenden Franzosen verteidigen wollte. Es hieß, er verfüge über 80 bis 100 gut bewaffnete SS-Soldaten. Das war damals eine ernst zu nehmende Bedrohung, die eine lebensgefährliche Dimension hatte. In allen meinen Recherchen hat sich gezeigt, dass es  immer dort Todesopfer bei der Besetzung eines Ortes gegeben hat, wo die Waffen-SS anwesend war und  den Befehl zur Verteidigung gegeben hatte. Beispiele dafür sind auch die Endkämpfe in Bregenz und Götzis. Doch zum Glück sah die Wirklichkeit für die Menschen in Au und Schoppernau anders aus.  Ludwig Merker war nie Angehöriger der SS, sondern normaler Wehrmachtsangehöriger, der zu diesem Zeitpunkt des Krieges eher dazu neigte, seine Haut und die seines Sohnes zu retten.
Jedoch verfügte er tatsächlich über eine Anzahl von jungen SS-Soldaten, die von der Napola-Schule Rottweil nach Schoppernau gekommen waren und von Leutnant Otto Reinwald geführt wurden. Diese Gruppe junger fanatischer Menschen war sicher kampfbereit, um das Reich in letzter Minute noch zu retten. Diese Jungen trugen hier in Schoppernau über ihren Schuluniformen Mäntel, die Hoheitszeichen der SS auf dem linken Ärmel hatten. So ist es nicht verwunderlich, dass diese Jungen von den Bewohnern von Schoppernau zu Recht der Waffen-SS zugerechnet worden sind, wie Hans-Dieter Merker mir in einem Gespräch sagte. De facto waren diese jungen Menschen voll ausgebildete Soldaten der Waffen-SS. Sie waren mit Panzerabwehrwaffen und Infanteriewaffen ausgerüstet, sodass der Stab Merker über diese Waffen und Soldaten hätte verfügen können. Eine gewisse  „Großmauligkeit“ dieser jungen Männer, die sich auf Grund ihrer schulischen und militärischen Ausbildung zur Elite des Staates zählten, kann nicht von der Hand gewiesen werden. Sie hat mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Verunsicherung und zur Steigerung der Besorgnis der Bewohner beigetragen.
Auf Bitten der Bewohner von Schoppernau führte der Postenkommandant der Gendarmerie Hofer Gespräche mit Generalleutnant Merker. Nach längerer Verhandlung verständigte man sich darauf, dass der Ort beim Eintreffen der Franzosen nicht verteidigt werden solle. Die vorhandenen Waffen sollten jedoch unter der Verfügung von General Merker verbleiben. Generalleutnant Merker verzichtete auf die Verwendung der SS-Soldaten und deren Waffen. Er befahl Leutnant Otto Reinwald, noch vor Eintreffen der französischen Besatzungssoldaten die jungen Soldaten der Waffen-SS zu entwaffnen, deren Waffen in das Berggut Boden zu bringen und die jungen SS-Männer auf die Hütten Gräsalper zu führen. Er hoffte so die Möglichkeit eines Kampfes mit  den Franzosen zu verringern. Generalleutnant Merker schickte  am 6. Mai 1945 zwei Emissäre seines Stabes, Major Bock und Fräulein Kimmig, die perfekt Französisch sprach, zur französischen Kommandantur nach Egg und bot die Kapitulation seines Stabes an. Die Kapitulation wurde angenommen. Noch am gleichen Tag fuhr Generalleutnant Merker mit seinem Stab in eigenen Wehrmachtsfahrzeugen, unter Begleitung eines französischen Offiziers, nach Egg zur französischen Kommandantur. Generalleutnant Ludwig Merker, sein Adjutant Leutnant Hans-Dieter Merker, Innenminister Jonathan Schmid und die anderen Angehörigen des Stabes gaben ihre Waffen ab und gingen in Gefangenschaft. Damit endete an diesem 6. Mai 1945 jede Verantwortung von Generalleutnant Merker für die noch folgenden Ereignisse in Au und Schoppernau.

 

Lage der Alpe Gräsalper

In Schoppernau gab es jedoch  auch nach der Kapitulation vom 5. Mai 1945 noch Wehrmachtssoldaten, die nicht Generalleutnant Merker unterstanden. Nachdem Generalleutnant Merker am 6. Mai bereits in Gefangenschaft war, müssen wohl einige dieser Soldaten Waffen- und Verpflegung aus dem Lager im Berggut Boden entnommen und auf die damalige Alpe Gräsalper gebracht  haben. Durch die  Bewaffnung der deutschen Soldaten auf der Alpe Gräsalper wurde der Weg zur Konfrontation am 15. Mai 1945 mit der französischen Besatzungsmacht erst möglich. Diese bewaffneten Soldaten waren offenbar bereit, die Franzosen anzugreifen, ohne die am 5. Mai 1945 bzw. 8. Mai 1945 in Kraft getretene Kapitulationen zu respektieren. Das Waffen- und Munitionslager, das die Franzosen am 15. Mai 1945 bei der Inspektion  auf der Alpe Gräsalper vorfanden und der bewaffnete Widerstand, den deutsche Soldaten dabei leisteten, erfüllten alle Eigenschaften einer Werwolfaktion.

 

Luftbild von 1950. Lage der Alphütten auf der Alpe Gräsalper 1945. Aus www.vorarlberg/atlas vom 19.9.2012

 

Blick auf das Vorsäß Boden
Bei dieser Inspektion nahmen die Franzosen vier deutsche Soldaten gefangen, zwei auf der Alpe Gräsalper und zwei im Vorsäß Boden. Sie wurden noch am Tage ihrer Gefangennahme in der Gaut beim Hotel Krone in Au exekutiert.
Leutnant Otto Reinwald, einer der exekutierten Soldaten, gehörte mit Sicherheit dem Stab Merker an. Generalleutnant Merker hatte Reinwald den Befehl gegeben, die jungen SS-Soldaten entwaffnet ins, wie er sagte „Landschulheim“, auf der Alpe Gräsalper zu bringen. Die drei anderen exekutierten Soldaten gehörten jedoch nicht zum Stab Merker. Sie waren von Heer, Luftwaffe und Marine.

Nach der Gefangennahme der Soldaten auf der Gräsalper und im Vorsäß Boden trat das französische Standgericht in seiner Kommandantur in der „Krone“ in Au zusammen, beriet die militärische Situation und fällte die Todesurteile. Pfarrer Heinrich Fenkart nutzte  diese Zeit der Standgerichtsverhandlung und ging zu den Gefangenen, die im Kühlraum der „Krone“ auf das Urteil warteten. Er stand den vier Todeskandidaten bei, wobei zwei von ihnen evangelisch waren und einer der Katholischen seinen Beistand ablehnte. Der vierte hatte vorher reumütig gebeichtet und andächtig die hl. Kommunion empfangen.

Die vier exekutierten Soldaten wurden noch am gleichen Abend um 21.30 Uhr, zusammen mit einem fünften Soldaten, der auf der Alpe Gräsalper gefallen war, in einem gemeinsamen Grab auf dem Friedhof in Au beerdigt. Der fünfte Soldat, der auf der Alpe Gräsalper von der französischen Patrouille bei der Hütte 1 erschossen wurde, konnte nicht identifiziert werden.

Was geschah nun an diesem 15. Mai auf der Alpe Gräsalper? Die Auswertung vorhandener Dokumente ergab folgendes Gesamtbild, über das es nur in Details unterschiedliche Zeitzeugenaussagen gibt. Die französische Kommandantur hatte Kenntnis davon bekommen, dass sich auf der Alpe Gräsalper, auf der es  zwei Alphütten gab, deutsche Soldaten versteckt hielten. Am Morgen wurde deswegen eine Gruppe marokkanischer Soldaten, bestehend aus zwei Patrouillen, unter der Führung von zwei Ortskundigen zur Alpe Gräsalper geschickt. Schon bei der ersten Hütte, bei der noch ein Zelt stand, wurde die erste Patrouille beschossen. Dabei wurde ein deutscher Leutnant durch einen Kopfschuss getötet. Ein zweiter Soldat wurde dabei am Fuß verwundet. Die zweite Patrouille wurde von der zweiten Hütte aus mit Handgranaten beworfen.  Dabei wurde ein marokkanischer Unteroffizier tödlich verletzt. Als die zweite Patrouille das Feuer auf die Hütte eröffnete, floh eine Gruppe von deutschen Soldaten in die umliegenden Wälder.

Als Vergeltung für den Tod des marokkanischen Soldaten wurden die Gräsalper Alphütten, die Tobelhütte und alle Gebäude im Vorsäß Boden angezündet. Auch die Michaeliskapelle brannte ab.

 

Blick vom Diedamskopf (2090m) Richtung Vorsäß Boden und Alpe Gräsalper. Foto E. Wiedeking 2012

 

In der Gaut hinter der Krone

Heute erinnert in der Gaut nichts mehr an die Exekution der deutschen Soldaten.
Paula Natter beobachtete damals vom Tal aus die Brände der Alphütten und im Vorsäß Boden. Sie war auch Augenzeugin der Exekution. Sie berichtete: Ich war gerade auf dem Kartoffelacker beschäftigt, als dunkler, schwarzer Rauch aus Richtung Boden Vorsäß aufstieg. Kurze Zeit später wurden vier deutsche Soldaten gebracht. Einer dieser Soldaten war verletzt und wurde auf einer Trage transportiert.

Sie wurden sofort eingesperrt. Man sagte, es wären SS-Soldaten. Am gleichen Tage gegen Abend wurden sie in der Gaut erschossen. Einer der Soldaten grüßte noch mit dem Hitlergruß: „Heil Hitler“.

Die marokkanischen Soldaten bildeten einen großen Halbkreis. Für jeden Deutschen waren drei Marokkaner für die Erschießung abkommandiert. Der erste lag, der zweite kniete und der dritte stand.

Auf ein Kommando wurde geschossen und die Soldaten lagen regungslos am Boden.  Dann ging noch ein französischer Offizier hin und schoss nochmals aus nächster Nähe mit seiner Pistole auf die am Boden liegenden Soldaten.“
Hedwig Rützler, die zur Bewirtung der französischen Offiziere im Gasthaus Krone in Au arbeitete, schrieb zur Exekution der vier gefangenen deutschen Soldaten: „Dieser Tag war einfach schrecklich und ich hoffe, ich muss so einen Tag nicht mehr erleben. Vier deutsche Soldaten wurden am frühen Nachmittag zur „Krone“ getrieben und sofort in den Kühlraum gesperrt. Der auf der Alpe Gräsalper getötete Marokkaner lag für eine kurze Zeit auf dem Küchentisch in der „Krone“. Am Abend desselben Tages wurden die vier deutschen Soldaten am Waldrand hinter der „Krone“ auf einem Hügel  erschossen.

Allen wurden zuerst die Augen verbunden. Die toten Soldaten trug man mit herunterhängenden  Armen auf einem Brett liegend davon. Man sagte, einer der Soldaten soll der Sohn eines hohen Offiziers gewesen sein. Es war einfach schrecklich.“

 

Exekutionsort "Gaut" beim Hotel Krone in Au. Foto E. Wiedeking 2012

 

Eintrag im Sterbebuch

Pfarrer Fenkart trug bald darauf die Namen der toten Soldaten in das Sterbebuch der Pfarrei Au ein. In der Aufregung wurde Reinwald als Vorname zum Nachnamen Merker, zuerst Mekker, später Merkl, festgehalten. Dieser Irrtum führte dazu, dass der tote Otto Reinwald fälschlicherweise als Sohn von Generalleutnant Ludwig Merker im Sterbebuch eingetragen wurde.
 

Sterbebucheintrag kath. Kirche Au. Foto Pfr. Georg Willam, 2012
Quelle: www.volksbund.de/graebersuche
Quelle: www.volksbund.de/graebersuche
Quelle: www.volksbund.de/graebersuche
Quelle: www.volksbund.de/graebersuche

 

Kathrin Manser, die damals im Schoppernauer Ortsteil Gräsalp oben am Waldrand wohnte, hatte als Kind den Leichenzug der Marokkaner mit ihrem auf der Alpe Gräsalper getöteten Kameraden, dessen Name nicht bekannt ist, gesehen. Sie sagte mir, dass der auf der Alpe Gräsalper getötete marokkanische Soldat von seinen Kameraden  von der Alpe über den Fußpfad auf der Ostseite des Dürrenbachs zu Tal getragen wurde.

Mit lautem Geschrei und Klagen trugen die marokkanischen Soldaten ihren toten Kameraden durch Schoppernau. Sie brachten ihn dann zur französischen Kommandantur in das Hotel Krone in Au .

 

Bei einer späteren Untersuchung der Brandreste der Hütten auf der Alpe Gräsalper wurden weitere drei tote deutsche Soldaten gefunden. (Ein Bericht spricht von zwei Toten). Sie lagen unter dem Stallboden einer Hütte versteckt und sind dort verbrannt. Durch wen und wo diese Brandopfer begraben worden sind, konnte nicht festgestellt werden. Im Sterbebuch der Pfarrei Au finden sich keine Hinweise auf diese unbekannten Toten. Somit endete die Inspektion der Hütten auf der Alpe Gräsalper mit dem Tod von insgesamt acht oder neun Menschen.

Hubert Manser aus Au erzählte mir: „Als sich die Schießerei auf der Gräsalpe ereignete, war ich 13 Jahre alt. Es gab damals zwei Hütten auf dieser Alpe, die in einigem Abstand bergauf voneinander lagen. Die Hütten gehörten einem Fabrikanten aus Mellau.

Später war ich als Förster auch für die Alpe Gräsalper zuständig. In den 70er Jahren haben wir das Fundament der ersten Hütte für einen Holzstadel benutzt. Heute gibt es den auch nicht mehr. Alles ist heute vom Wald überwachsen. Viele Jahre nach den Ereignissen habe ich oben auf der ehemaligen Alpe Gräsalper noch ein Maschinengewehr gefunden.

Heute ist der Ort, an dem der Schwarze Tag von Au seinen Anfang genommen hat, von Wald überwachsen. Nur noch wenige Bewohner in Au und Schoppernau wissen, wo sich einmal die Alpe Gräsalper am Dürrenbach befunden hat“.

 

Das Grab der fünf toten Soldaten auf dem Friedhof in Au. Foto E. Wiedeking 2012

 

Erinnerung ist wichtig, damit kein Gras über die Vergangenheit wächst, wie der Wald über die ehemaligen Gräsalper Hütten. Schätzen wir unsere Erinnerung als Bindeglied zwischen Gegenwart, Vergangenheit und unserer Zukunft. Bedenken wir, Krieg ist ein Ausnahmezustand, in dem menschliche Regeln und Gesetze außer Kraft gesetzt werden. Nach wie vor gilt das universelle Gebot: Du darfst nicht töten!  Dennoch wird im Krieg von allen Beteiligten getötet.

Das ist ein wahrhaftes Dilemma der Menschheit, dem wir immer wieder hilflos gegenüber stehen. Jede Exekution, auch diese am damals in Au, ist eine menschliche Katastrophe. Nach solchen Ereignissen bleiben Fragen offen.

Wie immer wir darüber denken, wir werden zu diesen Fragen keine schlüssigen Antworten finden, die Allen und Allem gerecht werden.

 

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