Spurensuche Menschen im Krieg
SpurensucheMenschen im Krieg

1945 Die Flucht von Bublitz/Pommern, nach Tönning/Schleswig-Holstein

Zu den großen Verlierern der verbrecherischen Nazi-Diktatur gehören auch die Bewohner der damaligen Ostgebiete des "Dritten Reiches".  Auf der Spurensuche nach Ereignissen, nach Gräbern, ehemaligen Stellungsbauten, Zeitzeugen, treffen wir auch auf Menschen, deren Erinnerungen an tragische und traurige Monate zum Ende der Kriegszeit immer präsent sind.
Viele der noch lebenden Kriegskinder, die Flucht und Vertreibung hautnah erlebt haben, bleiben bis heute in ihrem Schmerz "sprachlos".  Umso dankbarer sind wir unserem Freund Wolfgang Quade, der uns seine Erlebnisse aus dem Jahr 1945 aufgeschrieben hat. Er wohnte in Bublitz in Pommern, dem heutigen Bobolice in Polen.
 

Erinnerungen von Wolfgang Quade 2015

Beginnen will ich mit einem Zitat von Gorch Fock.


„Die gefährlichste aller Weltanschauungen

ist die Weltanschauung derer,

die die Welt nie angeschaut haben“
 

In Abwandlung kann man auch sagen: Gefährlich ist Fremdenhass oder Hass gegen Flüchtende, von Leuten die nie in der Fremde oder auf der Flucht waren, deren Weltanschauung ein großes Loch ist. Dieses Loch wird nun von falschen Demokraten ausgefüllt. Ein ausländisches Opfer eines rechtsradikalen Überfalls sagte einmal vor Gericht: „Egal wie jemand aussieht oder wie er spricht, lern ihn kennen, dann weißt du, wie er wirklich ist“. So hat manch ein Fremder eine bessere Weltanschauung, als der mit dem Loch in seinem Hirn, der sich die Welt nie anschaute.

 

Meine Geburtsstadt  Bublitz ist eine Kleinstadt in Pommern, im Kreis Kösslin, die 1945 etwa 7000 Einwohner hatte. Hier wohnte ich mit meiner Mutter, die 26 Jahre alt war, am Markt Nr.14. Im Februar 1945 war ich 5 Jahre und 7 Monate alt. Mein Vater Martin Quade war schon 1940 in Frankreich gefallen. Meine Großmutter, 57 Jahre alt, wohnte etwas außerhalb in einem kleinen Haus mit Stall.  (2 Schweine, 2 Ziegen, Hühner, Enten und  5 Gänse). Großvater war schon im 1 Weltkrieg und war nun mit 57 Jahren zum Volkssturm eingezogen worden. Eine Urgroßmutter, 79 Jahre alt, hatte ich noch in Bublitz, die nicht weit vom Markt wohnte.

Hier in Bublitz wohnte meine Mutter mit mir. Foto ca. 1932. Foto Archiv W. Quade
Bublitz, Markt 14, wie es 2015 aussieht. Foto: Archiv W.Quade

Weihnachten 1944 feierten wir bei meiner Großmutter in der guten Stube.

Das Radio, ein Volksempfänger, wurde immer zu den Frontnachrichten angeschaltet. Es wurde die Post vom Großvater vorgelesen und ich glaube, es war sein letzter Brief, der uns erreichte. Von Omas Sohn, dem Bruder meiner Mutter, war auch schon lange keine Nachricht mehr gekommen. Er war an der Front in Russland. Auch von der Schwester meiner Mutter gab es keine Nachricht, sie war als Krankenschwester irgendwo im Einsatz. Es war eine sehr stille und gedrückte Stimmung zu diesem Fest.

Der Russe kommt nach Bublitz

 

Am 26.02.1945 war schon der Kanonendonner in der Ferne, aus der Richtung Neustettin und Hölkewiese, südöstlich von Bublitz, zu hören. Meine Mutter und ich  wohnten Am Markt Nr. 14 unter dem Dach. Im Parterre war ein Textilgeschäft und im Keller war unser Luftschutzbunker, oder was man dafür so ansah. Denn der Keller ragte an der Seitenstraße etwa 1,5 Meter bis über den Gehweg hoch und bot von der Seite wenig Schutz. Meine Mutter war in einer Druckerei dienstverpflichtet. Meist musste sie in der Nacht arbeiten. Dienstags hatte sie immer frei.

Ich kann mich noch erinnern; sie hatte frei und wir mussten in den Keller, weil der Russe nun auch Bublitz beschoss. Das war am 26.02.1945 gegen Abend. Alle Haubewohner saßen in einem der hinteren Räume, als plötzlich mit lautem Knall eine Granate die Kellerwand an der Straßenseite durchschlug und in einem vorderen Raum liegen blieb. Einige Personen wurden verletzt. Mit Betten wurde das Loch zugestopft. So mussten wir die ganze Nacht ausharren. Schaufenster und andere Scheiben gingen klirrend  zu Bruch. Da wir in einem Eckhaus wohnten, die Russen aber von den Seitenstraßen zum Marktplatz vorrückten, der von deutschen Panzern noch gehalten wurde, waren wir genau in der Schusslinie der Angreifer und der Verteidiger. Am 27. Februar gegen Mittag, es war  gerade eine Feuerpause, konnten wir mit einer weißen Fahne den Keller verlassen.

Schaufensterpuppen, Ladeneinrichtungen, Dachziegel, tote Soldaten, Textilien und kaputtes Kriegsgerät lagen hier verstreut herum. Es war ein grausiger Anblick. Zu meiner Urgroßmutter konnten wir nicht durchkommen, dort war schon der Russe. Wir flüchteten aus der Stadt und konnten uns zur Großmutter, durchschlagen. Sie wohnte etwas außerhalb der Stadt. Meine Großmutter Emma Maaß, meine Mutter und ich sind dann sofort weiter zur Schule, wo so etwas wie ein Sammelpunkt für die Bevölkerung war. Von hier konnte man die heftigen Gefechte im Zentrum hören. Irgendwann stand ein riesiger Rauchpilz über der Stadt. Der Russe hatte alle Häuser an der Südseite des Marktplatzes in Brand gesteckt. Da hatten wir ja nochmal Glück, dass wir da raus waren. Nun wurden kleine Gruppen zusammengestellt, die dann in Richtung Westen aufbrachen, um nach Stettin und eventuell auch noch weiter zu entkommen. So zogen wir dann in einer Gruppe von etwa 15 bis 20 Personen und einem Fuhrwerk los. In unsrem kleinen Handwagen waren Decken, Wäsche und etwas Verpflegung. Jeder hatte noch einen Rucksack dabei.

Nach Recherchen war die Kriegslage in Ostpommern folgende:
Ende Februar begann vom Süden die sowjetische Armee, mit Unterstützung der 1. polnischen Armee in Ostpommern ihre entscheidenden Angriffe, um an die Ostseeküste zu gelangen. Von Süden nach Norden wurde innerhalb von knapp 14 Tagen ganz Ostpommern in Besitz genommen. Die zwei Hauptstöße der sowjetischen Truppen im Raum Ostpommerns führten einerseits aus dem Raum Friedeberg - Arnswalde nach der Odermündung bei Stettin, weiter nordwärts zur Ostseeküste bei Cammin und andererseits aus dem Raum Schneidemühl - Deutsch-Krone über Neustettin, Bublitz nach der Ostseeküste. Ein weiterer Truppenverband kam östlich von Köslin der Küste entlang und stand schon am 1. März vor Köslin. Die Ziele wurden in kürzester Zeit erreicht, und damit entstand für die flüchtende Bevölkerung Pommerns eine fast aussichtslose Lage. Ostpommern wurde in zwei Teile gespalten und für alle östlich der Linie Neustettin - Köslin liegenden Kreise war die Landverbindung nach Westen abgeschnitten. Bublitz konnte ab dem 1. März in Richtung Stettin nicht mehr verlassen werden.
Die überlegenen sowjetischen Kräfte haben Pommern Ende Februar bis Anfang März zu einem großen Teil besetzt, vor allem am östlichen Mündungsarm der Oder in die Ostsee. Man wollte erreichen, die noch an der ostpommerschen Küste stehenden deutschen Verbände und dort zusammengedrängten Flüchtlingsmassen von der Landverbindung mit dem Westen abzuschneiden. Der von Stettin östlich gelegene Brückenkopf  Kolberg, in dem sich etwa 70.000 Zivilisten befanden, leistete den Sowjets heftigen Widerstand. Die Stadt wurde von polnischen und sowjetischen Verbänden ununterbrochen angegriffen und ihr Verteidigungsraum immer mehr zusammengedrängt. Er lag unter unaufhörlichem Beschuss der feindlichen Artillerie. Trotz hoher Ausfälle verteidigte die schwache deutsche Besatzung Kolberg, um den Abtransport der Flüchtlinge, für den der Schiffsraum zunächst noch nicht zur Verfügung stand, zu ermöglichen. Erst in der Nacht vom 17. zum 18. März war die Evakuierung der letzten Zivilisten und Soldaten über See möglich. Als die Polen und Sowjets am 18. März in die Ruinen der Stadt eindrangen, waren alle Zivilisten, Verwundeten und noch kampffähigen Soldaten, insgesamt etwa 75.000 Menschen, eingeschifft und abtransportiert worden.

2015, am Markt 14 in Bublitz. Foto Archiv W. Quade

Diese Informationen standen uns Flüchtlingen nicht zur Verfügung. Es gab zwar die Mundpropaganda, aber da war meist alles schon wieder anders.

Einige Tage und Nächte waren wir unterwegs, es war bitter kalt, und es bestand immer die Gefahr, von Tieffliegern erschossen, oder von der russischen Armee überrollt zu werden. Über Gramenz am 28.02. ging es nach Bärwalde. Am 1.03. zogen wir an Schivelbein vorbei. Südlich der Ortschaft war die russische Armee nicht mehr weit und man hörte auch hier schon das Donnern der Kanonen. Einige Male mussten wir vor Tiefflieger in Gräben oder hinter Bäumen Schutz suchen. Bei so einem Angriff wurde unser kleiner Handwagen mit dem Gepäck getroffen, der völlig abbrannte. Scheinbar war auch Brandmunition dabei. Nun hatten wir nur noch unsere Kleidung, die wir am Leibe trugen. Die Tiefflieger beharkten mit ihren Bordgeschützen am liebsten gerade Straßenzüge. Da wurde alles beschossen, ob Mensch, ob Tier oder was sich da noch bewegte. An dem Fuhrwerk das uns begleitete, war auch noch ein Fohlen angebunden. Dieses wurde gleich nach dem ersten Angriff so schwer verletzt, dass der Bauer es töten musste.

Eines Nachts im Wald, wir hatten zwei Decken von einem Fuhrwerk bekommen und uns mit Tannenreisig zugedeckt, war unsere Lagerstätte am Morgen mit ca. 10 cm Schnee bedeckt. Für uns Kinder gab es an diesem Morgen Stutenmilch, die schmeckt etwas süßlich. Diese hatte uns der Bauer von dem Fuhrwerk abgegeben. Nach einigen Tagen und vielen Umwegen, wir mussten ja Hauptstraßen meiden, hatten wir am 6. März einen kleinen Ort erreicht. Es war Daber. Hier haben uns die Sowjets überrollt. Nachts, wir lagen in einem verlassenem Gemeinde- oder Schulhaus im Bett, hörte man die Russen rufen: Uri, Uri, da wussten wir, jetzt sind sie da. Nun hat die Oma meine Mutter zwischen Bett und Wand versteckt. Ich musste mich mit meiner Zudecke darüber und davor legen. Die Russen haben die jungen Frauen und Mädchen zusammengetrieben und sie mussten ihnen zu Willen sein, das heißt, sie wurden vergewaltigt. Es war etwa der 7.März. In der Nacht zum 8.März sind wir wieder abgehauen. Diesmal aber in Richtung Osten, denn wo sollten wir noch anders hin? Überall waren schon die Russen. Am 4.03. waren die Städte Köslin, Naugard und Stargard gefallen und in russischer Hand. Nun ging es über Regenwalde und Groß Tychow zurück nach Bublitz. In einer Ortschaft nahe dem Dorf Damen an der Persante, hatten die Russen den Gemeinderat, oder irgendwelche anderen Personen, auf die Eisenstangen einer Denkmalumzäunung aufgespießt. Als Kopfbedeckung trug jeder einen schwarzen Zylinder. Warum man die so umgebracht hat, weiß ich nicht. Unsere Nerven waren auch nicht mehr die Besten. Ich erinnere mich noch an einen Vorfall bei der Abenddämmerung in einem Wald, nahe Regenwalde. In einiger Entfernung konnte ich mitten im Wald ein herrliches Gebäude erkennen. Meine Mutter aber konnte nichts sehen. Als ich aber dahin ging war nichts von einem Haus mehr da, es war alles nur Illusion. Für den Rückweg hat sich die Gruppe aufgelöst. Jede Familie sollte sich alleine durchschlagen. So waren meine Großmutter und meine Mutter mit mir nun alleine auf der Rücktour. Die Großmutter war eine starke kleine Frau. Was die in dieser Zeit geleistet hat, kann sich ein Außenstehender gar nicht vorstellen. Dörfer und Hauptstraßen wurden meist gemieden. Es ging über Feldwege und durch Wälder, von denen es viele in Pommern gibt, zogen wir in Richtung Bublitz. War ein Dorf in der Nähe, zog die Oma los und besorgte Verpflegung.
So kam sie einmal auch mit einem Huhn zurück, das dann über einem kleinen Feuer gegrillt wurde.

Unsere erste Fluchtroute im Februar bis März 1945. Archiv W. Quade

Am 10. März kamen wir wieder nach Bublitz. Am Marktplatz sah es fürchterlich aus. Die gesamte Südseite war dem Erdboden gleichgemacht und verbrannt. Überall Trümmer und Chaos mit kaputtem Kriegsmaterial. Einige Zwangsarbeiter waren dabei, die Leichen zu bergen und abzutransportieren.

Beim Haus meiner Großmutter angekommen, mussten wir feststellen, es war schon von Polen, die den Russen gefolgt waren, in Besitz genommen worden. Teile vom Hausrat waren schon verschwunden und man wollte uns auch nicht ins Haus lassen. Nach Großmutters langem Gespräch auf der russischen Kommandantur, wurden die Polen aufgefordert, das Haus zu verlassen und  die entwendeten Gegenstände zurückzubringen. Als Gegenleistung musste die Oma einem russischen Offizier freie Wohnung und Verpflegung zusagen. Dieser Offizier war ein gebildeter Mann mit sehr guten Deutschkenntnissen. Er überwachte alles und zog dann bei uns ein. In der Folgezeit wurden die Polen immer dreister. Die Nachbarin hatte schwer unter ihnen zu leiden. Sie hatte 3 Kinder und wenig zum Essen. Oma half auch dort so gut sie konnte. Meine Mutter musste für die Russen eine Molkerei abbauen und verladen, die ging dann nach Russland als Wiedergutmachung. Ob die wieder aufgebaut wurde? Wer weiß das schon. Nach dem Abbau war Mutter als Magd auf einem Bauernhof verpflichtet. Da gab es dann öfter mal Milch oder auch mal Butter. Ich bekam in dieser Zeit die Krätze. Juckende Haut und Verschorfungen sind die Folge dessen, dass sich eine Milbe in der Haut einnistet und dort Eier und Kot ablegt. Die Milben sind, zum Beispiel durch eine Umarmung, leicht übertragbar – zudem überleben sie bis zu 14 Tage lang auch außerhalb des Menschen, zum Beispiel in Stoffen. Mit mangelnder Hygiene hat eine Infektion mit den kleinen Milben, die starken Juckreiz auslösen, nichts zu tun. Zur Behandlung besorgte die Oma bei einem Arzt eine Salbe, im Tausch gegen Griebenschmalz. Das half dann auch wieder.  

Unsere Fluchtrouten 1945. Archiv W. Quade

Unser Russe war abgezogen und die Polen machten uns das Leben schwer.

Es kamen immer mehr Polen und die drückten die Deutschen aus ihren Wohnungen. Viele Leute verschwanden einfach über Nacht und gingen in den Westen. Das war aber verboten, denn die Leute wurden zur Demontage brauchbarer Maschinen und sogar zum Abbau von Gleisanlagen gebraucht. Meine Mutter haben wir oft in einen Bretterverschlag auf dem Heuboden im Stallgebäude versteckt. Nur einmal waren wir nicht schnell genug und sie wurde von einem betrunkenen Rußen vergewaltigt. Das erging vielen Frauen so.
Eine Zeitlang schützten die Russen die Deutschen vor den Polen. Die Angehörigen der russischen Kommandantur schritten immer ein. Mit der Zeit wurde das dann weniger, und so wurden die Deutschen langsam zum Freiwild der Polen. Mutter kam eines Abends nicht nach Hause. Oma hat sie gesucht, trotz Ausgehverbot, aber sie blieb verschwunden. Am anderen Tag erfuhren wir, man hatte einige Frauen in ein Arbeitslager zur Gleisdemontage verschleppt. Mutter sei auch darunter. Nun beschloss die Oma: „Wir hauen ab, aber nicht ohne deine Mutter“. Also, Rucksäcke packen und bei Nacht auf dem alten Gleisbett den Frauen hinterher. Beim Lager musste ich mich in einem alten Schuppen verstecken und die Oma hat die Mutter aus dem Lager befreit. Sie hat nie gesagt, wie sie das anstellte. Vielleicht ist das auch besser so.

Es war etwa Ende April, als wir wieder loszogen. Oma hatte schon die Reiseroute im Kopf. Nur nicht mit der Bahn fahren, denn in den Zügen saßen immer polnische Banden und Horden, die die Reisenden ausraubten. Man erzählte auch, dass es in den Zügen oft Tote gegeben hat.
Meist waren wir schon vor dem Morgengrauen unterwegs. Ab Mittag wurde dann ein Versteck gesucht. Omas Devise: nur keinem Menschen begegnen. So erreichten wir nach einigen Tagen Stettin. Stettin war zu diesem Zeitpunkt eine Stadt, die noch voll unter sowjetischer Besatzung stand. Erst am 5. Juli 1945 wurde Stettin von der sowjetischen Besatzungsmacht an Polen übergeben. Hier im Hafen lagen auch Schiffe der Alliierten, unter anderem auch ein englischer Frachter. Auf diesem Schiff bekamen wir eine Überfahrt nach Travemünde. Übrigens, von den verschleppten Frauen die zum Gleisabbau eingesetzt waren, hat man nie wieder etwas gehört. Man munkelte, sie seien nach Sibirien verschleppt worden. Es waren noch einige andere Familien mit auf dem Schiff, das am Tage darauf auslief. Oma half dem Koch in seiner Kombüse. Wie die sich wohl verständigt haben? Nun, die Hauptsache war doch, es gab etwas zum Essen. Nach dem Verlassen von Bublitz die erste warme Mahlzeit! Ein leckerer Frühstücksbrei mit Namen Porridge und zum Mittag ein Kohleintopf mit Fleischstücken. Das war seit langem das beste Essen nach dieser Flucht.

Ein Schiffsarzt  hat uns untersucht und mir eine neue Salbe gegen die Krätze gegeben. Ich hatte sie zwar schon mit Omas Mitteln überstanden, aber er meinte, ich solle mich noch etwas damit einreiben.  In Travemünde kam dann die große Entlausung,  obwohl Oma meine Haare immer mit einem Spezialkamm gekämmt hatte. Aber die Entlausung mussten alle über sich ergehen lassen. Mit einer riesigen großen Luftpumpe wurde einem zwischen Hemdkragen und Körper ein Pulver eingeblasen. Danach roch jeder nach diesem Pulver und es hat ja wohl auch geholfen, denn ich kann mich nicht erinnern je Läuse gehabt zu haben. Nach der Entlausung und dem Gesundheitstest wurden wir mit einem Viehwaggon mit Ofen, es gab keine Personenwagen, über Kiel und Flensburg nach Lindholm bei Niebüll, an die Westküste von Schleswig–Holstein geschickt. Auf der Bahnfahrt, die über einen Tag dauerte, gab es warmen Tee, Maisbrot und eine warme Haferflockensuppe. Die Verpflegung kam vom Engländer und wurde an verschiedenen Bahnhöfen von Helfern des Roten Kreuz ausgeteilt. Von Flensburg nach Lindholm wurden wir mit einem LKW gefahren. Bei einem Bauern am Ortsrand wurden wir dann einquartiert. Ich glaube, der liebe Mann war nicht so begeistert. Das kann man sich ja auch denken, denn plötzlich musste er drei Personen mehr verpflegen. Aber als er merkte, die Oma und meine Mutter kannten sich mit Ackerbau und Viehzucht aus und halfen ihm auf dem Hof, wurde er ganz umgänglich. Hier auf dem Hof hatten wir ein Zimmer mit ca. 16 m², in dem 3 Betten ein Tisch und ein Kleiderschrank standen. Gegessen wurde immer gemeinsam mit dem Bauer und seiner Frau.

Die Oma machte sich nun auf die Suche nach dem Opa. Hierbei hat der Bauer ihr auch geholfen. So kann man sagen, dass er kein schlechter Mensch war, sondern nur etwas überfordert.  Nach etwa vier Wochen bekam die Oma vom Roten-Kreuz eine Nachricht mit der Adresse vom Opa. Er war in Tönning, etwa 40 km von hier. Am Tag darauf machte sie sich dann auf den Weg nach Tönning. Nach ihrer Rückkehr zogen wir nun zum Opa nach Tönning in die Baracke am Elisenhof. Hier hatten wir ein Zimmer für vier Personen. Opa war als Gärtner und Hausmeister bei einem Anwalt in Tönning beschäftigt. In diesem Jahr 1945 war die Einschulung für die Kinder Ende Juli, so war ich gerade noch rechtzeitig zum Einschulen angekommen.

Unser Neuanfang in dieser Baracke in Tönning 1945. Zeichnung W. Quade

Abschließen möchte ich mit einem Wort von Heinrich Heine.

„Auf den Nationalismus berufen sich alle, die menschliches Elend verursachen und ausnützen“

 

© Wolfgang Quade

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